Alex Capus
Alex Capus erklärt uns in seiner Textprobe, wie er zum Schreiben gekommen ist.
Piazza September 09
Manchmal fragen mich die Leute, wie ich zum Schreiben gekommen bin und wo ich es gelernt habe. „Na, bei Fräulein Brotschi“, sage ich dann. „Im Sommer und Herbst 1968, und zwar im Sälischulhaus in Olten.“ Fräulein Brotschi hat mir alle sechsundzwanzig Buchstaben beigebracht, und mit denen habe ich noch im selben Jahr meine erste Indianergeschichte geschrieben in ein kariertes Schulheft.
Übrigens ist es erstaunlich, wie viele Schweizer Schriftsteller in Olten lesen und schreiben gelernt haben. Peter Bichsel hat ebenfalls bei Fräulein Brotschi lesen und schreiben gelernt. Im Sommer und Herbst 1942 muss das gewesen sein, und zwar im Bifangschulhaus, weil es das Sälischulhaus damals noch nicht gab. Er ist am Pfarrweg 9 aufgewachsen, gleich neben der reformierten Kirche, ich im mittleren Hochhaus am Mühletalweg 5 im achten Stock. Zwei Etagen über uns wohnte mit seinen Eltern Rolf Lappert, heute Träger des Schweizer Buchpreises 2008; er war aber nicht bei Fräulein Brotschi, sondern im Schulzimmer nebenan bei meiner Mutter, die von Kindern und Eltern Fräulein Capus gerufen wurde, worüber sie sich vergeblich furchtbar ärgerte; denn damals war eine Lehrerin einfach ein Fräulein, daran war noch nicht zu rütteln.
Nur achthundert Meter westlich, an der Reiserstrasse 4, ist Franz Hohler aufgewachsen; der müsste ums Jahr 1950 eingeschult worden sein, wahrscheinlich ebenfalls im Bifangschulhaus. Ob auch er bei Fräulein Brotschi war, weiss ich nicht. Ich wollte ihn fragen, aber er ist auf Bergtour.
Nicht bei Fräulein Brotschi, sondern bei Fräulein Irma Schenker im Hübelischulhaus hat Ulrich Knellwolf lesen und schreiben gelernt. Er wohnte erst an der Solothurnerstrasse 276 an der Grenze zu Wangen, dann an der Rainstrasse 10, von wo sein Vater es nicht weit hatte zur Arbeit in die Usego. Ein alter Drachen sei Fräulein Schenker gewesen, sagt er sechzig Jahre später, und die Buchstaben habe man bei ihr an der Wandtafel aneinander schieben müssen wie Güterwaggons im Rangierbahnhof.
Meine Fräulein Brotschi hingegen war eine warmherzige, distinguierte Dame kurz vor dem Pensionsalter mit Hang zur Anthroposophie, die unsere Bleistifte stiftsparend mit einem Messerchen spitzte und uns gelegentlich etwas auf der Geige vorspielte. Wenn wir krakeelten und Papierkügelchen schmissen, musste sie manchmal ein wenig weinen. In jenem Sommer 1968 wusste schon niemand mehr, dass sie zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ein hübsches junges Mädchen gewesen war, das unglücklich verliebt war in einen Oltner Lehrer und SP-Nationalrat; Peter Bichsel aber erinnert sich bis heute, dass er ihre Billets doux als Postillon d’amour dem grossen Mann überbringen musste, und dass dieser dann postwendend antwortete und Peterlis Rücken als Schreibunterlage benutzte.
Angesichts dieser Dichterdichte an den Oltner Schulen liegt die Vermutung nahe, dass es die pädagogischen Fähigkeiten von Fräulein Brotschi, Fräulein Capus und Fräulein Schenker waren, die uns zu Schriftstellern machten; dagegen spricht allerdings die grosse Zahl von Autoren, die in Olten zu produktiven Schriftstellern heranblühten, zuvor aber das Alphabet auswärts erlernt hatten. Urs Faes ist ein Aargauer, aber die meisten seiner Bücher hat er in Olten an der Feigelstrasse geschrieben, wo übrigens auch Ruedi Bussmann aufgewachsen ist. Otto F. Walter ist zwar in Rickenbach geboren, aber zu schreiben begonnen hat er in Olten an der Gallusstrasse, und seine Schwester Silja Walter hat ihre frühesten Gedichte am Amthausquai mit schönem Blick auf die Aare geschrieben. Herbert Meier ist zwar unbestrittenermassen ein Solothurner, aber seine Frau ist in Olten an der Bleichmattstrasse, an der ich heute wohne, gross geworden. Der junge Slam-Poet Kilian Ziegler ist wohl in Trimbach aufgewachsen, aber so richtig aufgeblüht ist er erst, seit er sich in Olten rumtreibt.
An den Lehrerinnen kann es also nicht liegen, dass alle in Olten zu schreiben anfangen. Ich glaube, die tun uns etwas ins Trinkwasser.
Olten, 19. August 2009
Piazza September 09
Manchmal fragen mich die Leute, wie ich zum Schreiben gekommen bin und wo ich es gelernt habe. „Na, bei Fräulein Brotschi“, sage ich dann. „Im Sommer und Herbst 1968, und zwar im Sälischulhaus in Olten.“ Fräulein Brotschi hat mir alle sechsundzwanzig Buchstaben beigebracht, und mit denen habe ich noch im selben Jahr meine erste Indianergeschichte geschrieben in ein kariertes Schulheft.
Übrigens ist es erstaunlich, wie viele Schweizer Schriftsteller in Olten lesen und schreiben gelernt haben. Peter Bichsel hat ebenfalls bei Fräulein Brotschi lesen und schreiben gelernt. Im Sommer und Herbst 1942 muss das gewesen sein, und zwar im Bifangschulhaus, weil es das Sälischulhaus damals noch nicht gab. Er ist am Pfarrweg 9 aufgewachsen, gleich neben der reformierten Kirche, ich im mittleren Hochhaus am Mühletalweg 5 im achten Stock. Zwei Etagen über uns wohnte mit seinen Eltern Rolf Lappert, heute Träger des Schweizer Buchpreises 2008; er war aber nicht bei Fräulein Brotschi, sondern im Schulzimmer nebenan bei meiner Mutter, die von Kindern und Eltern Fräulein Capus gerufen wurde, worüber sie sich vergeblich furchtbar ärgerte; denn damals war eine Lehrerin einfach ein Fräulein, daran war noch nicht zu rütteln.
Nur achthundert Meter westlich, an der Reiserstrasse 4, ist Franz Hohler aufgewachsen; der müsste ums Jahr 1950 eingeschult worden sein, wahrscheinlich ebenfalls im Bifangschulhaus. Ob auch er bei Fräulein Brotschi war, weiss ich nicht. Ich wollte ihn fragen, aber er ist auf Bergtour.
Nicht bei Fräulein Brotschi, sondern bei Fräulein Irma Schenker im Hübelischulhaus hat Ulrich Knellwolf lesen und schreiben gelernt. Er wohnte erst an der Solothurnerstrasse 276 an der Grenze zu Wangen, dann an der Rainstrasse 10, von wo sein Vater es nicht weit hatte zur Arbeit in die Usego. Ein alter Drachen sei Fräulein Schenker gewesen, sagt er sechzig Jahre später, und die Buchstaben habe man bei ihr an der Wandtafel aneinander schieben müssen wie Güterwaggons im Rangierbahnhof.
Meine Fräulein Brotschi hingegen war eine warmherzige, distinguierte Dame kurz vor dem Pensionsalter mit Hang zur Anthroposophie, die unsere Bleistifte stiftsparend mit einem Messerchen spitzte und uns gelegentlich etwas auf der Geige vorspielte. Wenn wir krakeelten und Papierkügelchen schmissen, musste sie manchmal ein wenig weinen. In jenem Sommer 1968 wusste schon niemand mehr, dass sie zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ein hübsches junges Mädchen gewesen war, das unglücklich verliebt war in einen Oltner Lehrer und SP-Nationalrat; Peter Bichsel aber erinnert sich bis heute, dass er ihre Billets doux als Postillon d’amour dem grossen Mann überbringen musste, und dass dieser dann postwendend antwortete und Peterlis Rücken als Schreibunterlage benutzte.
Angesichts dieser Dichterdichte an den Oltner Schulen liegt die Vermutung nahe, dass es die pädagogischen Fähigkeiten von Fräulein Brotschi, Fräulein Capus und Fräulein Schenker waren, die uns zu Schriftstellern machten; dagegen spricht allerdings die grosse Zahl von Autoren, die in Olten zu produktiven Schriftstellern heranblühten, zuvor aber das Alphabet auswärts erlernt hatten. Urs Faes ist ein Aargauer, aber die meisten seiner Bücher hat er in Olten an der Feigelstrasse geschrieben, wo übrigens auch Ruedi Bussmann aufgewachsen ist. Otto F. Walter ist zwar in Rickenbach geboren, aber zu schreiben begonnen hat er in Olten an der Gallusstrasse, und seine Schwester Silja Walter hat ihre frühesten Gedichte am Amthausquai mit schönem Blick auf die Aare geschrieben. Herbert Meier ist zwar unbestrittenermassen ein Solothurner, aber seine Frau ist in Olten an der Bleichmattstrasse, an der ich heute wohne, gross geworden. Der junge Slam-Poet Kilian Ziegler ist wohl in Trimbach aufgewachsen, aber so richtig aufgeblüht ist er erst, seit er sich in Olten rumtreibt.
An den Lehrerinnen kann es also nicht liegen, dass alle in Olten zu schreiben anfangen. Ich glaube, die tun uns etwas ins Trinkwasser.
Olten, 19. August 2009
von assotsiationsklimbim am Donnerstag, 27. August 2009, 12:17 unter archiv 09