Helmut Schönauer
Als zweite Textkostprobe der heuer beim Sprachsalz lesenden AutorInnen präsentieren wir einen Strauß Rezensionen von Helmut Schönauer, die Textsorte, die sein Schaffen zumindest quantitativ dominiert. Es frägt sich direkt (neidvoll), woher er bei so viel Lektüre bloß die Zeit zum Schreiben hernimmt.
GEGENWARTSLITERATUR 1710
Meilengewinner
Im Flugverkehr gibt es fallweise so etwas wie Bonus-Meilen oder Vielfliegergratifikationen. Am Boden ist ein Meilengewinner offensichtlich jemand, der sich selbst mit dem Absolvieren von Meilen belohnt.
Das Hauptthema im Roman ist die Gelassenheit und Beiläufigkeit, mit der die Figuren unterwegs sind. Der Ich-Erzähler strolcht mit sich im Süden herum, trifft ununterbrochen neue Leute, trinkt mit diesen, ehe die zufällig zusammengekommenen Grüppchen sich wieder in alle Winde zerstreuen. Wie in dieser internationalen Vaganten-Szene üblich, werden oft nicht einmal mehr die Namen genannt sondern bloß die Nationalitäten, der Deutsche, der Schwede, der Pole.
Natürlich ergeben sich immer wieder Frauengeschichten, die aber an Zufälligkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
„Wir waren wie zwei Figuren aus einem Puppentheater.“ (199)
Man zieht ins Hotel, solange das Geld reicht, manchmal kriegt man von einer Stadt nichts mit, wenn gerade heftige Liegezeit im Zimmer ausgerufen ist.
Wenn das Geld ausgeht, heißt es, schnell eine Arbeit annehmen, wobei die Arbeit dann eher wieder meditativ gelassen erledigt wird, ein bisschen Obstpflücken, ein bisschen Früchte sortieren, viel reden, zusammensitzen und trinken, so lässt sich sogar die Arbeit aushalten.
„Der Winter zwängte sich vorüber, und die Zeit war schlecht, und dem war nicht abzuhelfen. Vielmehr schälte die Sonne meinen Schädel und knackte die Schale und legte den Kern frei. Die Sonnenstrahlen brieten mein Gehirn in Dimitris‘ Feldern, der Staub war das Paniermehl.“ (126)
Als einmal die Kohle wirklich aufhört zu sprießen, muss der Erzähler kurz zurück in die Alpen und mit einem Schweizer Wanderkollegen zu Hause Geld abholen. Dann geht es wieder stracks in die Türkei, Izmir wäre zwar leicht zu erreichen, aber das Ziel heißt Gümüldür, weil es besser klingt. Freilich gelingt auch bei einem zielfreien Leben nicht alles. „Gümüldür erreichten wir nie im Leben.“ (260)
Stephan Alfares Roman ist ein philosophischer Kraftakt in Richtung anything goes. Zeit und Ort spielen keine Rolle, Kohle kommt oder kommt nicht, wenn genug zu Trinken da ist, ist der Tag gerettet, an besonderen Tagen lässt sich durchaus auch einmal eine etwas kräftigere Haluzination einwerfen. Dieser Roman ist ein gutes Durchhalte-Medikament, wenn den Leser irgendwo im Nebel der Alpen der nackte Arbeitstag in voller Sinnlosigkeit auffrisst. Man gewinnt dann die Meilen der Freiheit durch schieres Lesen
Stephan Alfare: Meilengewinner. Roman.
Wien: Luftschacht 2008. 318 Seiten. EUR 21,90. ISBN 978-3-902373-35-9.
GEGENWARTSLITERATUR 1712
Europa kreuzweise
Du kannst mich mal kreuzweise! – Diese Fügung bedeutet allgemein, dass jemand von einer Sache oder Person ziemlich genug hat.
Blixia Bargeld verwendet diesen satten Begriff „kreuzweise“, um einerseits die Abgeklärtheit gegenüber Europa als Geographie auszudrücken und andererseits zu erzählen, dass er jeden Winkel des Kontinents irgendwann einmal aufgesucht hat.
Blixia Bargeld ist Sprachkünstler, Philosoph und Texter, und quasi als Tarnung ist er Chef der Band „Einstürzende Neubauten“. Mit der Litanei nützt er die Möglichkeit, die Schattenseiten von Musikertouren aufzuzeigen, die Kunst in allen Variationen anzurufen und ab und zu auch noch praktische Hinweise beim Aufsuchen interessanter Städte unterzubringen.
Der Ich-Erzähler tourt mit dem Band-Bus durch die Gegend, oft artet die Tour in pure Tortur aus. Die einzigen Freuden sind exquisite Speise-Lokale, sie verschaffen sinnliche Berührung mit der Gegend und Gegenwart, den gutes Essen blitzt wie ein Komet nur kurz und konkret im Weltall der Sinneseindrücke auf. Einmal entschuldigt sich Blixia Bargeld beim Leser, dass es verrückt aussieht, wenn jemand nur von einem Speiselokal ins nächste wechselt. Aber zum Ausgleich geht er auch in Museen und beschreibt die gesehenen Eindrücke wie eine Speisekarte. Apropos Speisekarte, in der Litanei sind auch die wichtigsten Menüs verzeichnet, wie ein Kochbuch auf SMS-Basis werden die rasantesten Speisen heruntergebetet.
Die Textgattung Litanei entfaltet sich volles Rohr, wenn es darum geht, die jeweiligen Auftritte der Band zu dokumentieren. Jeder Abend gleicht vom Konzept her jedem Abend, um das zu begreifen, schreibt der Autor jeweils die Lokalität auf, und dann das Programm.
„Die Wellen / Nagorny Karabach / Dead Friends / Let’s Do it Da Da / Weil Weil Weil / Unvollständigkeit / Rampe – Von wegen / Die Befindlichkeit des Landes / Sabrina / Susej / Ich warte“ (72)
Der Programmablauf wird dabei zu einem Gedicht, später zu einem Halt stiftenden Mantra, schließlich zur Litanei, an der man sich an jedem Ort Europas aufrichten kann.
Trotz Müdigkeit, Kampf gegen das Abstumpfen, Sinnzweifel an jedem Ort gelingt es dem erzählenden Ich, jene Magie auszustrahlen, die das Publikum in die Musikhallen treibt und im Leser die Lust erweckt, die Orte der Europa-Litanei aufzusuchen.
Blixia Bargeld erzählt mit den scheinbar sich wiederholenden Methoden der Litanei von einem Europa, das jeden Tag Kunst in die Geschichte schmiert, damit die Geschichte nicht quietscht, wenn sie abläuft. Ein raffinierter, fröhlich-anarchistischer Zugang zur Kunst, zum Leben und zu Europa!
Blixia Bargeld: Europa kreuzweise. Eine Litanei.
St. Pölten: Residenz 2009. 123 Seiten. EUR 14,90. ISBN 978-3-7017-1500-8.
GEGENWARTSLITERATUR 1726
Der Hungerkünstler
Zu einer Zeit, als es noch kein Big Brother im Fernsehen gab, waren Hungerkünstler zur Unterhaltung am Werk, indem sie ihre Hungerei öffentlich zur Schau stellten. Franz Kafka hat in seiner gleichnamigen Erzählung so einen Hungerkünstler als ironisches Lichtbild eines idealen Künstlers entworfen, der Künstler wird darin einfach im Käfig vergessen und stirbt.
Bei Georg Elterlein tritt der Hungerkünstler als modernen Held voller Psychosen auf.
Der 19-jährige Andreas ist als Tennisprofi gescheitert und sitzt in der Psychiatrie. Mit seinem Arzt ist vereinbart, dass er erst wieder entlassen wird, wenn er mindestens fünfzig Kilo auf die Waage bringt. Andreas nämlich ist nicht nur ziemlich verstört und enttäuscht von der Welt, er hat auch einen verrückten Plan. Er will sich in einen entlegenen Landstrich irgendwo im Süden zurückziehen und dort verhungern.
Aber die Welt tickt oft anders, als es ideale Pläne vorsehen. Irgendwie bringt Andreas seine fünfzig Kilo zusammen und wird entlassen, gerade rechtzeitig um zu erfahren, dass seine Oma gestorben ist. Da Opa ziemlich von der Rolle ist, ergibt sich bald ein Lebenssinn, wenn der Enkel beim Großvater bleibt, wird vielleicht alles wieder gut.
Großvater hat einen Tick, er liebt Motoren und ist seinerzeit freiwillig in den Spanischen Bürgerkrieg eingerückt, weil es dort angeblich die besten Motoren weit und breit gegeben haben soll. Eine Studentin, Krähe genannt, pickt aus den verborgenen Erlebnissen des Großvaters die Erinnerungs-Brosamen heraus und schreibt eine Arbeit darüber.
Andreas fasst nun endgültig Fuß in der Welt, denn er verliebt sich in Krähe und kümmert sich um die Lebensgeschichte des Großvaters. So nebenher nimmt er einen Job als Garagenportier an.
Georg Elterleins Roman ist auf Happy end abgestellt. Alles wird gut, wenn man es richtig macht. Also man muss ein gewisses Grundgewicht haben, sich vom Vater lösen und dem Großvater zuwenden, und wenn man sich verliebt, tut man gut daran, wenn das Gegenüber wissenschaftlich sattelfest ist und eine Liebe für den Spanischen Bürgerkrieg entwickelt.
Na ja, irgendwie ist dieser Hungerkünstler doch ein artiger Schausteller geworden, der es uns Lesern so richtig zeigt, wie man aus einer Psycho-Krise gut herauskommt. Ein bisschen erinnert dieser moderne Hungerkünstler dann doch an ‚Big Brother‘ oder ‚Holt mich hier raus‘.
Georg Elterlein: Der Hungerkünstler. Roman.
Wien: Picus 2009. 310 Seiten. EUR 22,90. ISBN 978-3-85452-641-4.
Georg Elterlein, geb. 1961 in Wien, lebt in Wien.
Helmuth Schönauer 30/06/09
GEGENWARTSLITERATUR 1749
Rimbauds Kantine
Vielleicht ist die Poesie das Rauschen zwischen den Begriffen, von denen unerwartete Botschaften ins Zeileninnere ausgesendet werden. Vielleicht ist der Wahnsinn eine Abschweifung der Poesie, wenn Begriffe aus den Zeilen fallen.
Das poetische Ich steht in Peter Enzingers Prosagedicht jedenfalls gehörig unter Phantasie-Strom. Von der Dichtung gezeichnet, knapp am Absinth-Delirium, von der Sinnsuche entstellt kämpft sich das Ich durch die eigene Dichtung.
„Einst war ich Dichter und Waffenhändler, so sagt man, heute bin ich ein Kind geworden, das zur grünen Stunde mit Wörtermurmeln spielt. Man sagt, ich habe meinen Verstand verloren. Man sagt, ich habe ein Bein verloren. Mein Name sei Rimbaud.“ (59)
Zwischendurch tritt dieser Rimbaud aus sich selbst heraus und nimmt eine semi-haptische Figur der Literatur an. Bekannte Schriftsteller grüßen vom Prosarand in die Dichtung hinein, Verlaine nimmt sogar direkten Kontakt auf, während von Georg Heym bloß die langen Wimpern (91) vorüberwinken, während es ins nächste Zechgelage geht.
In den langen Klagen zwischen poetischen Zacken tritt zwischendurch so etwas wie ein Lebenslauf in Kraft, Rimbaud schwirrt beinahe Ort-los durch den Kontinent, geht mit Verlaine nach London und macht sich dann selbständig auf nach Afrika.
„Oft um mich zum Affen zu machen, rufe ich mich zum Dichter aus, wenn alle anfangen mich auszulachen, dann gebe ich mich als Giraffe aus, und wenn ich mich dann von Baum zu Baum schwinge, dann sagen alle, dass ich spinne […]“ (77)
Der Ton der Dichtung schwankt dabei zwischen Delirium und Singsang. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen der ausgerufenen Dichtung, dem literarisierenden Lebensstil und der evozierten Poetik.
„Lasst mich erzählen von den Räumen in denen Rimbaud wohnt. Dort strömen die Träume in die Zimmer und die Dämonen.“ (108)
Nur ganz vage gehen die Gedankenschwärme in konkrete Handlung über, Rimbauds Kantine lässt sich wie Rimbaud selbst nicht beschreiben.
Peter Enzinger stellt mit seinem Prosagedicht einen fulminanten Kosmos von Delirium und Dichtung auf die Beine. Während die Prosa quasi wie eine Kuchenform den Teig zusammenhält, geht dieser als Poesie auf und überwuchert die Form. Für literarische Rätselfans gibt es jede Menge verschlüsselter Nachrichten, für euphorische Leser eine Eruption aus Phantasie und Wahnsinn!
Peter Enzinger: Rimbauds Kantine. Prosagedicht.
Wien: Klever 2009. 110 Seiten. EUR 15,90. ISBN 978-3-902665-08-9.
TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 1168
Drei Frauen
Vielleicht kann man ein Leben nur dann halbwegs beschreiben, wenn man gleich drei beschreibt. Ursula Haas verknotet in ihrem „Künstlerinnen-Roman“ drei Stränge ineinander, dabei erzählt sie in Ich-Du-Sie-Form.
Als Ich-Erzählerin führt die Schriftstellerin Lenka durch den Roman. Diese Figur ist teilweise autobiographisch angelegt, 1943 in Tschechien geboren ist das erste aufwühlende Ereignis die Flucht zu Kriegsende in den Westen. Lenka ist ein Leben lang recht fragil und kränklich, immer wieder mündet das Leben in einen reinen Überlebenskampf. „Ich muss mein Bett verlassen, damit der Tod mich nicht holt.“ (106) Eine wichtige Griffstange beim Überleben ist das Schreiben, Lenka wird Schriftstellerin und rätselt ein Leben lang, wie sie diese Rolle halbwegs gerecht zwischen Kunst und eigenem Empfinden anlegen kann.
Als Vergleichsschicksale dienen zwei Frauen. Einmal ist es die Bildhauerin Camille Claudel (1864 – 1943), die ein Leben lang im Schatten ihres Bruders Paul Claudel steht. Camille reibt sich eine Zeit lang an Auguste Rodin ab, aber gerade als sie eine eigenständige Kunst entwickelt, wird sie schwermütig und verbringt fast die Hälfte ihres Lebens in psychiatrischen Sanatorien. Ihr Schicksal wird im Roman jeweils in der Du-Form dargestellt.
In der sie-Form hingegen wird das Leben der Fotografin Tina Modotti (1986 – 1942) beschrieben, die als Künstlerin und politische Leitfigur in Italien, Mexiko und Südamerika Furore machte.
Die biographischen Daten der beiden Leitfiguren sind im Anhang ausführlich kommentiert.
Die Kernfrage für die Schriftstellerin Lenka ist freilich die Überlegung, wie man eine Biographie halbwegs authentisch und dennoch fiktivisch frei darstellen könnte.
„Ich muss eingreifen. Schreibend will ich weiter erfinden.“ (38) „Ich bin auf der Suche nach Menschen, ihrem Bezug zur Zeit und ihrem Sinn.“ (141) „Aus der Realität der Überlieferung entsteht die Fiktion. Die Erfindung verselbständigt sich durch die Worte.“ (279)
Allmählich entsteht nicht nur eine Biographie sondern auch eine kulturelle Umhüllung, die sich als Allgemeingeschichte um die jeweiligen Figuren legt. Und auch der Preis, den die Künstlerinnen in ihrer Zeit zu zahlen haben, wird nicht ausgespart. Psychiatrie, revolutionäre Ungemach, Krankenbett und Leben am literarischen Rand sind oft die Folge künstlerischer Tätigkeit.
Ursula Haas‘ Roman gleicht in der Erzählmethode ein wenig der Schlafwandler-Trilogie von Hermann Broch, wo ja auch die einzelnen Epochen jeweils mit dem sinnstiftenden Pronomen unterlegt sind. „Drei Frauen“, ein bereits von Robert Musil in die Literaturgeschichte eingebrachtes Label, erzählt umsichtig und mit Hingabe vom Versuch, ein künstlerisch dichtes Leben zu führen und dabei das Leben selbst nicht aus dem Auge zu verlieren.
Ursula Haas: Drei Frauen. Roman.
Innsbruck: Kyrene 2009. 332 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-900009-55-7.
GEGENWARTSLITERATUR 1750
Auspack und freu!
Wenn man sich erwartet, dass Literatur als Gebrauchsanweisung gelesen werden kann, dann muss man damit rechnen, dass echte Gebrauchsanweisung auch zu Literatur ausarten kann.
Jürgen Hahn, Fachmann für Technische Kommunikation, hat aus den unzähligen Gebrauchsanweisungen, die Geräten, Kosmetika und Versicherungspolizzen beiliegen, die verrücktesten herausgesucht.
Als verrückte Gebrauchsanweisungen bezeichnet man solche, die mit dem beschriebenen Gegenstand oder Vorgang nichts zu tun haben, so dass sie als eigenständiges Produkt gelten können.
Viele Beschreibungen geraten natürlich deshalb aus den Fugen, weil sie von unkundigen Übersetzern aus einer anderen Sprache verstümmelt und rein mechanisch ins Deutsche übersetzt werden. Aber es gibt auch Texte, die von vorneherein als Gebrauchsanweisung ungeeignet sind. Eine Maschine zu bauen ist die eine Sache, sie den Menschen zu erklären eine andere, heißt es sinngemäß bei Wittgenstein.
„Auspack und freu“ ist ein grandioser Titel für eine Sammlung von skurrilen Anweisungen. Der konkrete Befehl zur Auspackfreude stammt übrigens aus einer Gebrauchsanweisung für eine batteriebetriebene Weihnachtskerze. Und auch die Batterien kriegen gleich ihr Gebrauchs-Fett ab: „Fuer neue Batterie alt Batterie zurueck fuer Sauberkeit in deutscher Wald.“ (7)
Die Kunst der literarischen Gebrauchsanweisung gibt es, seit es Gebrauchsanweisungen gibt. In der Auspack-Sammlung sind Beispiele aus dem Jahre 1932 enthalten, wo etwa „Lebensmittel im Eisschlaf“ vorgestellt werden, dabei wird gleich eine ganze Lebensphilosophie inklusive Rollenbilder mitgeliefert. „Für jede Hausfrau gibt es besonders arbeitsreiche Tage, an denen ihr für das Vorbereiten und Kochen der Mahlzeiten nur wenig Zeit zur Verfügung steht. An Fest- und Feiertagen oder am Wochenende möchte sie sich die Arbeit erleichtern, weil vielleicht ein Ausfluß [!] unternommen werden soll.“ (57)
In der Gegenwart freilich muten manche Texte dem Klienten geradezu utopische Verhaltensweisen zu. Für die Montage einer „Halogenfackelslampe“ wird empfohlen: „Bitte keine Erschütterung die Leuchtige Lampe Anzugeben, Sonst wir die Lampe zer-schmettern. Wenn die Glühbirne ein Lampe auf voll ein fur zwei Stunden. Wenn Sie kein lärm hat.“ (41)
Solche Texte kann man als pure Literatur lesen, sie sind offensichtlich an der Kante zwischen Experiment und Fiktion angesiedelt und lassen sich, mit einem Phantomautor unterlegt, in jeder Anthologie für Sprachexperimente unterbringen.
Jürgen Hahn lässt die Texte für sich sprechen, allein die Zusammenstellung der Beispiele ist ein Akt hoher Poesie. Um die Freude am Auspacken auch haptisch in die Glieder fahren zu lassen, hat der Verlag einen wunderbaren Umschlag gestaltet, den man seitenverkehrt wie eine Wundertüte aufmachen kann. Literarisches Auspacken kann wirklich Freude machen!
Jürgen H. Hahn: Auspack und freu! Die witzigsten Gebrauchsanweisungen.
Frankfurt/M: Eichborn 2009. 88 Seiten. EUR 10,50. ISBN 978-3-8218-6048-0.
GEGENWARTSLITERATUR 1751
Zeilen entlang der Zeit
Manchmal wird die Literatur so eigenständig, dass sie nach einer neuen Gattung verlangt. Ilse Kilic und Fritz Widhalm komponieren schon seit Jahren eine realistisch üppige Literatur zusammen und statten sie ständig mit neuen Gattungsbegriffen aus. So bietet etwa der Verwicklungsroman eine feine Möglichkeit, Geschehnisse und Verhältnisse aus der Vergangenheit autobiographisch mit der Gegenwart zu verknüpfen.
Der Verwicklungsroman erstreckt sich als work in progress über mehrere Bände, wenn wieder ein Band fertig wird, wird er publiziert, als Leser kann man an jeder Stelle einsteigen und hat immer den gesamten Ablauf vor Augen. Zu diesem Zweck ist die Handlung in durchnummerierte Erlebnisparagraphen aufgeteilt, im aktuellen Band erstreckt sich das Geschehen von Nummer 355 bis 410.
Eine Besonderheit stellen sicher die Heldinnen und Helden dar. Da tummeln sich einmal Jana und Naz fiktional durch den Text, aber ihnen sind als Spiegelpersonen die Realitätshelden Ilse und Fritz beigesellt. Je nach Dramatik des Geschehens bewältigen Jana und Naz die Situation, bei schweren Ereignissen eilen dann Ilse und Fritz zu Hilfe.
Als Leser ist man dadurch mit beiden Beinen in der Fiktion und kann seine Leselust ausleben, gleichzeitig wird man aber immer wieder von den realen Figuren in die Realität geholt nach dem Motto: Schau dir das in Wirklichkeit an.
Zeilen entlang der Zeit kümmert sich, wie schon der Titel sagt, vor allem um den geordneten Ablauf der Zeit, und damit es ein strukturiertes Vorher und Nachher gibt, sind allerhand Handlungspartikel ausgestreut. So kommt Naz etwa eines Tages am Wiener Westbahnhof an und erklärt die Bahnhofsrestauration zu seinem Lieblingsort, von dem aus sich die diversen Abenteuer anzetteln lassen und worin auch verlässlich alle Abenteuer wieder enden.
Jana hingegen versucht im imaginären Raum der Pädagogik und der Ausbildung zur Lehrerin Fuß zu fassen, biegt aber jeweils bevor ein pädagogisches Unglück geschehen kann in die Realität ab und betrachtet von dort aus den seltsamen Kosmos des Schulwesens.
Zwischendrin ergibt sich jede Menge Musikkultur, die Bands treten in Scheiben gepresst oder als Essay auf und dokumentieren die jeweilige Gegenwartskultur.
Obwohl die Figuren behutsam fiktional angelegt sind, bleiben sie zerbrechlich wie in der Realität. Jana muss sich ständig mit dem Thema Krebs auseinandersetzen und auch der Naz erwischt zwischendurch ein schlechtes Jahr, in dem er von einer Untersuchung zur nächsten muss. In einem Erlebnisparagraphen zählt Naz beispielsweise alle seine Spiegelungen auf, Darm, Blase und was sich alles so spiegeln lässt.
Ilse Kilic und Fritz Widhalm erzählen fröhlich und lüstern vom Abenteuer Leben, dabei sind sie sehr freigiebig und überlassen die schönen Dinge meist den fiktionalen Doubles, während sie die schlimmen Dinge durchaus auf die eigene Erlebniskappe nehmen. Der Verwicklungsroman „Zeilen entlang der Zeit“ erzählt mit satten Zeilen, dass man erzählen kann wie man will, die Zeit pfeift immer durch die Klusen der Ereignisse.
Ilse Kilic / Fritz Widhalm: Zeilen entlang der Zeit. Des Verwicklungsromans sechster Teil.
Wien: edition ch 2009. 102 Seiten. EUR 12,-. ISBN 978-3-901015-42-7.
GEGENWARTSLITERATUR 1741
Sunnyboys
Ein Roman kann an manchen Tagen wie eine Zauberformel wirken. Der mieseste Alltag, die gewöhnlichste Trivialität, die flachsten Gedankengänge – alles kann plötzlich zu einem Abenteuer werden, wenn sich ein Roman dieser Dinge annimmt.
Jan Kossdorff verzaubert mit seinem Roman gewöhnliche Figuren und lässt sie als echte Sunnyboys auftreten. Die Brüder Clemens und Claudio Kommenda sind nicht nur sonnige Typen, sie führen auch das passende Sonnenstudio dazu. Auch die übrigen Figuren sind ausgesprochen normal bis bieder, zumindest auf den ersten Blick. So scheint eine Volksschullehrerin die ideale Partnerin für einen Sunnyboy zu sein, aber gerade das Gewöhnliche artet oft ins Zickige aus.
Der bürgerlich niedergebügelte Schrecken beginnt, als der Ich-Erzähler Clemens nebenberuflich als Detektiv zu arbeiten beginnt. Schon einer der ersten Einsätze öffnet ihm die Augen. Seine Eltern nämlich sind zu Sexabenteuern verabredet und toben sich in entlegenen Villen ordentlich aus.
Auch sein Bruder Claudio ist nicht nur der brave Sonnen-Kooperator, der den Kunden fallweise die Höhensonne justiert, er hat längst ein zweites Lokal im Auge und will sich selbständig machen.
Zwischendurch werden die Aufträge immer skurriler, ein Fußball-Fürst geht im Ruhestand seltsamen Geschäften nach und es ist besser, wenn man nicht alles weiß. Und verlässlich kommen beim sporadischen Privatdetektiv die Hormone zum Schuss, so dass sich quasi eine flüchtige Affäre an die andere fügt.
Um dem trivialen Leben immer wieder eines auszuwischen, hält sich der Ich-Erzähler an die sogenannte „Regel“. „Vor einiger Zeit habe ich nämlich bemerkt, dass es mir immer schwerer fällt, für gewisse Dinge Begeisterung aufzubringen und generell meinen Hintern hochzukriegen. Deswegen habe ich eine Regel entwickelt, die der äußeren und inneren Erstarrung vorbeugen soll: Mach jeden Tag etwas, das du noch nie gemacht hast.“ (28)
Nach dieser Regel läuft auch der Roman ab. Ständig ist etwas Neues los, die Dinge geschehen zufällig und zusammenhanglos. Die Erlebnisse werden in einem Warenkorb zusammengetragen, aber es ist keine Kassa in Sicht, damit man sie erwerben könnte. Die Figuren erfüllen ihre Aufgabe, die Gegenwart über die Runden zu bringen, mehr ist von ihnen nicht zu erwarten.
Jan Kossdorffs Roman ist bei genauerer Betrachtung ein perfektes Sittenbild einer urbanen, politisch semi-aufgeklärten Gesellschaft am Ende der sogenannten „Nuller-Jahre“. Der Roman liest sich geschmeidig und rinnt wie ein Sonderangebot die Lesekehle hinunter. Aber gerade das ist die heimtückische Botschaft: Das Leben ist vielleicht nichts anderes als ein rasches Versickern von Erlebnissen in einem diffusen Untergrund. Letztlich sind die Sunnyboys unangreifbare Helden einer Flachbildschirm-Zeit.
Jan Kossdorff: Sunnyboys. Roman
Wien: Milena 2009. 380 Seiten. EUR 18,90. ISBN 978-3-85286-176-0.
GEGENWARTSLITERATUR 1753
Manneswehen
Wenn es möglich ist, mit Hilfe der weiblichen Feuchtgebiete einen kontinentalen Bestseller zu landen, dann müsste das mit entsprechend literarischer Ausgestaltung auch mit den männlichen Geschlechtsteilen möglich sein.
Bruno Preisendörfer setzt seinen Roman „Manneswehen“ mit der Härte des entsprechenden Klischees in die Literaturgeschichte. Sein Held ist Spezialist für sanitäre Anlagen und kennt sich bei Duschköpfen, Abflüssen und Toilettenboards bestens aus. Die Partnerin des Sanitär-Profis ist Gynäkologin, die offen zugibt, sexuell privat mit Hingabe eine Sau zu sein.
Zu Beginn erleben wir den Ich-Erzähler völlig fertig, wie er gerade in einer Spezialkonstruktion sitzt, die es ihm ermöglicht, seine Genitalien zu schonen. Der Held hat sich soeben sterilisieren lassen und wir lernen gleich den Unterschied zwischen Sterilisation und Kastration, wie überhaupt sofort erklärt wird, wie es zur Vasektomie gekommen ist.
Zentrum des Geschehens ist ein mittelgroßes Ärztehaus, in dem alle Spezialisten, welche zwischen Nabel und Kniekehle zuständig sind, ordinieren. Auch Helen, die Partnerin des Helden, ordiniert in diesem Service-Haus für Darm, After und Genitalien. Mit etwas Glück wird sie sogar von einem leicht impotenten Vorgesetzten die Praxis erben.
In vier Kapiteln geht es um alle Möglichkeiten der Verhütung und deren Perfektion, es geht um Samenproben vor und nach der Operation, um Stellungen während der Rekonvaleszenz und um Übungen zur Förderung des männlichen Selbstbewusstseins.
Denn obwohl sich der Ich-Erzähler dem Boxsport hingibt, fühlt er sich zwischendurch elendiglich und verliert jegliche sogenannte männliche Haltung.
Und über allem schwebt das Damoklesschwert der Sexualität, auf Schritt und Tritt und im Schritt und Tritt breitet sie sich ständig aus, taucht im Unterbewusstsein auf oder benimmt sich unkontrollierbar.
In Erinnerung ist dem Helden eine Sex-Performance in einem Theater, wobei die Performance-Künstlerin ein Spektakulum festschraubte und das Publikum auffordert, einmal hemmungslos zu gucken. – Kunst kann also auch ein Leben lang prägen!
„Manneswehen“ sollte man augenzwinkernd lesen, wie ja auch Bruno Preisendörfer seinen Helden augenzwinkernd in die Welt der sexuellen Höhen und Tiefen schickt. Und irgendwo ist dieser leicht jammernde Held nach seiner Sterilisation erst ein richtiger Mann, das ist vielleicht die Überbotschaft dieses durchaus informativen und was Verhütung betrifft aufklärerischen Romans.
Bruno Preisendörfer: Manneswehen. Roman.
Frankfurt/M: Eichborn 2009. 196 Seiten. EUR 17,50. ISBN 978-3-8218-6103-6.
GEGENWARTSLITERATUR 1729
Unterösterreich
Jede Gesellschaft besteht aus Untergesellschaften, die nach eigenen Spielregeln handeln und in sich abgeschottet sind. Man denke nur an die Kaste der Politiker, Adeligen oder Universitätsprofessoren, die vor allem eines im Auge haben: Niemand, der nicht die Initiationsriten dieser Subgesellschaft absolviert hat, darf in diesen kompakten Kleinwelten auftreten.
Auch die sogenannte Unterwelt ist eine kompakte, in sich abgeschlossene Gesellschaft. Den Beruf des Unterweltlers muss man lernen, auch wenn die Prüfungen anders aufgebaut sind als Prüfungen in der allgemeinen Gesellschaft.
Günther Zäuner beschreibt in seinem „Unterösterreich“ einige dieser Strukturen, die sich durch die sogenannte Unterwelt ziehen. Dabei kristallisiert sich so etwas wie eine typisch österreichische Sub-Gesellschaft heraus, die anders organisiert ist als die Unterwelt in Italien, Russland oder China. Der österreichische Schmäh verbunden mit einer nützlichen Lebensintelligenz produziert beim Unterweltler so etwas wie einen eleganten Überlebenskünstler.
„Das österreichische, insbesondere Wiener Rotlichtmilieu ist eine über Jahrzehnte gewachsene, homogene und in sich abgeschottete Gesellschaft, an deren Spitze Profis stehen, die nach eigenen Gesetzen und Kodizes handeln. Ein Außenstehender, der meint, aufs Geratewohl mal ein Bordell unter Missachtung sämtlicher Spielregeln eröffnen zu können, muss unweigerlich Schiffbruch erleiden.“ (19)
Zu Unterösterreich gehört auch die andere Seite, nämlich die Polizei. Diese ist ähnlich organisiert wie die Unterwelt, auch bei ihr gibt es geheimnisvolle Rituale und Spielregeln. Im österreichischen Idealfall ergänzen sich Unterwelt und Polizei, beide Seiten wissen, was sie dem Gegner zumuten können, und das ganze Land fährt letztlich gut mit dieser Methode der gegenseitigen Hochachtung.
Probleme gibt es mit internationalen Banden, mit mafiösen Verteilerkämpfen und jähzornigen Verletzungen des Status quo.
Günther Zäuner erzählt auch die Geschichte des österreichischen Verbrechertums, dabei stellt sich heraus, dass diese Zunft wie andere Berufe im Laufe der Zeit ihr Wissen upgedatet hat und durchaus auf dem Level der Zeit ist.
Einzelne Typen werden biographisch dargestellt wie Künstler oder Politiker, und obwohl vielleicht die öffentliche Sympathie manchmal zurückgenommen ist, so neigt der gestandene Österreicher durchaus dazu, Leistung und Ansehen auch in diesem Milieu zu würdigen.
Das Faszinierende an Günther Zäuners „Unterösterreich“ ist die gleichmäßige Sympathieverteilung zwischen Unterwelt und offizieller Welt. Alles ist relativ, niemand weiß bei seiner Geburt, was er eines Tages werden wird. Daher ist es oft purer Zufall, ob jemand im Untergrund oder bei der Polizei landet. Ein aufregendes, informatives und auch augenzwinkernd ironisches Buch!
Günther Zäuner: Unterösterreich. Alles über Österreichs Unterwelt.
Salzburg: Ecowin Verlag 2009. 236 Seiten. EUR 19,95. ISBN 978-3-902404-70-1.
Wer immer noch nicht genug hat: Auf seiner Website hat Helmut Schönauer noch einige weitere Rezensionen (und natürlich auch andere lesenwerte Texte) gesammelt.
von assotsiationsklimbim am Freitag, 14. August 2009, 10:58 unter archiv 09