Juri Andruchowytsch

Juri Andruchowytsch schickt uns als Kostprobe einen Ausschnitt aus seinem gerade in Arbeit befindlichen Städte-Text.

Juri Andruchowytsch


ODESSA, 1994

Dem Wort „Odessa“ haftet schon ein ganz besonderer Flair an, vor allem für diejenigen, die nie dort waren. Wie oft ist es mir passiert, dass meine Gesprächspartner vor Erregung zu zittern begannen, kaum hatte ich ganz nebenbei „Odessa“ erwähnt. Odessa kennt man in aller Welt. Genauer gesagt: Man kennt es nicht, obwohl man es kennt. Am korrektesten wäre also zu sagen, dass man Odessa nicht kennt, das aber in aller Welt. Denn alle Welt weiß davon, vor allem aus Sergei Eisensteins Film. Ich aber kenne es seit den Sommerferien 1969. Odessa war in Wirklichkeit die Kotowskij-Siedlung, also Lusaniwka. Meer und Strand in nichts zu vergleichen mit der Südküste der Krim, und in keiner einzigen Buchhandlung gab es auch nur ein einziges Buch von Jules Verne, obwohl es doch angeblich eine Hafenstadt war. Der Strand war unerträglich dreckig und wimmelte nur so vor Fliegen
und ihren Larven, schlimmer aber noch war eine Art angrenzende Grünanlage, wo unter jedem Busch ein Haufen Exkremente unterschiedlichen Alters lagerte.
Dann kamen andere Sommerferien, Mitte der Siebziger. Das ist wenn über der Oberlippe schon der Bart sprießt und man wahnsinnig gerne Sex haben möchte. Damals traf mich jener Sonnenstich, in dessen Folge ich plötzlich Dichter wurde. Wenn ich „Sonnenstich“ schreibe, dann sollten Sie das nicht wörtlich nehmen. Plötzlich durchdrang mich einfach alles – als habe mich jemand von oben mit einem heißen Speer durchbohrt. Gerade, als ich, nur in Badehosen, mitten auf dem Strand stand!
Als Folge dieses Speerwurfs kam ich etwas mehr als achtzehn Jahre später wieder nach Odessa, diesmal von See. Es handelte sich um ein griechisches Kreuzfahrtschiff mit sechs Decks, in Piräus in See gestochen, das ohne einen Hafen anzulaufen die Ägäis, das Marmaris- und das Schwarze Meer durchquert und am Passagierhafen von Odessa angelegt hatte. Aus ihm ergoss sich unser ganzer Stall voller Schriftsteller, an die vierhundert Personen.
Schriftsteller sind im Westen meistens links – die guten, die nicht ganz so guten und die ganz miesen. Das bedeutet weniger Zugehörigkeit zu einer Partei als eine gewisse weltanschauliche Grundeinstellung oder – noch ungewisser –gesellschaftliches Gestikulieren. Mir erscheint dieser linke Non-Konformismus immer als eine besondere Form des Milieukonformismus, demzufolge es peinlich ist, kein linker Schriftsteller zu sein. Nicht links sein bedeutet, ein bürgerliches Schwein zu sein. Und was kann schlimmer sein?

Aber zurück nach Odessa. An jenem nasskalten Novembernachmittag, kurz vor der früh hereinbrechenden Abenddämmerung, ergossen sie sich über den Passagierhafen wie eine vierhundertköpfige Tsunami-Herde. Sie wollten Odessa – ohne Zweifel. Was sie brauchten, war die Potemkin-Treppe mit dem Kinderwagen. Und dazu rote Fahnen, KGB, Hafenhuren. Sie fingen bei den Geldwechslern an und überschütteten sie mit kleinen Dollarscheinen. Dafür erhielten sie riesige Päckchen hyperinflationärer Kupon-Karbowanzen. Eine Fünfdollarnote war Hunderte dieser schmierigen, verschieden oder vielmehr gleich widerlich gefärbten Papierchen wert.
Dann machte jeder von ihnen etwas, wofür ich sie zum ersten Mal zu hassen begann. Sie fotografierten sich mit diesen ekligen verschiedenfarbigen Päcken, fächerten sie auf, wenn es ging, stopften sich damit die Taschen voll und krümmten angestrengt ihre Buckel. Wie Kinder freuten sie sich über diese Geldmasse, aber das waren böse Kinder.
Zum zweiten Mal hasste ich sie, als sie sich auf die gleich hinter den Geldwechslern aufgebauten Stände stürzten und diesen Gaunern alles abkauften, was sie in die Finger bekamen – Matrjoschkas, Militärhelme, Kappen aus Kaninchenfell, Soldatenmützen mit Ohrenklappen, Lenin-Stalin-Porträts, Orden und Medaillen der Sowjetunion, Samoware, Filzstiefel, wattierte Jacken „Kufajka“, Koppeln, Raketenrampen, Generalssterne, dann wieder Matrjoschkas und von vorn im Kreis immer dasselbe. Ihnen schien, sie erlebten den letzten Ausverkauf der Bruchstücke einer besiegten, doch immernoch attraktiven Welt. Dabei fotografierten sie ununterbrochen – in der dichter werdenden Dämmerung unter immer häufigerem Blitzen, eine letzte apokalyptische Session vor Einbruch der vollkommenen Finsternis, schon in Soldatenmützen und Uniformmänteln und Drillichhosen, Orden und Sterne an der Brust, mit Balalaikas, Kalaschnikows und Ikonen.
Als hätten sie diesen ganzen Kommunismus zum Teufel zertrümmert, und tanzten jetzt auf seinen Überresten. Oder anders – als ob sie gekommen wären, seine letzten Reste zu retten, um ihn wieder zusammenzusetzen.
Wie gut, dass wir noch am selben Abend von Odessa nach Constanţa weiter fuhren und sie nicht mehr dazu kamen.

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
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