Gabriele Loges
Von Gabriele Loges der Anfang des Textes "Vielleicht ist es ja nur ein Traum", erschienen in: Ausgehen, 19. Würth-Literaturpreis. Mit e. Vorw. v. Feridun Zaimoglu. Hrsg. v. Dorothee Kimmich. Swiridoff Verl. 2008, S. 85 ff.:
Weißt du, hat er zu mir gesagt, weißt du, eigentlich kann es nicht wahr sein. Ich sehe sie, sagte der Mann dann noch, ich sehe sie, wie sie die Treppe hinunterrennt, sich umdreht, ihr braucht nicht auf mich zu warten, geht schon mal ins Bett, in eurem Alter ist das vernünftiger. Was wusste sie schon vom Alter. Vor dieser Nacht waren wir jung.
Und dann, fuhr er fort, und dann waren wir so froh, dass wir nichts gemacht haben, gegen das Mädchen, das andere, das noch gekommen ist, zwei Jahre zuvor, obwohl meine Frau doch schon über vierzig war und die Kollegen bei der Arbeit mich fragten, ob ich eingeschlafen wäre, auf ihr. Jetzt sind wir froh, die Kleine hat uns gebraucht.
Wir haben sie gebraucht.
Für meine Frau, meine Elsa, war es noch schlimmer. Beinahe hätte sie es nicht geschafft. Die Ärzte haben dann geholfen, aber sie musste in den sechsten Stock, musste ins Krankenhaus, du weißt schon, im sechsten Stock sind die Verrückten. Doch dort hat sie es nicht ausgehalten, auch ich nicht, wenn ich sie besucht habe. Ich wollte nicht mehr hingehen, aber die Große hat gesagt, Papa, du musst, Mama braucht dich jetzt, aber bei mir hat sie immer angefangen zu weinen: wo ist sie, sag es mir doch, wo ist sie? Aber ich wusste es auch nicht. Einmal habe ich sie noch gesehen. Annerose, ein schöner Name, findest du nicht? Davon wollte ich meiner Frau nichts erzählen, das hätte ihr überhaupt nicht geholfen, im Gegenteil. Elsas Gesicht wurde in diesem Jahr ganz rund, alles an ihr wurde rund wie ein Mond und weich und leer. Nur wenn ich bei ihr war, kam ein wenig Glanz in ihre Augen, sie wollte alles wissen, wollte wissen, wie Annerose aussah, und ob nicht alles doch ein Traum gewesen sei, aber ich habe nichts gesagt, die Erinnerung ist grausam, die Vergangenheit immer schneller als die Zukunft.
Ausgerechnet von mir wollte sie Hilfe. Wenn ich beim Rasieren im Spiegel meine leeren Augen gesehen habe, bin ich weggegangen, meist ins Wirtshaus.
Als meine Frau wieder zu Hause war, hat sie überall im Haus Bilder von Annerose aufgestellt. Sie suchte wie eine Verrückte nach einem Foto, auf dem sie lacht, als Schulkind, bei der Erstkommunion, bei der Schulentlassfeier, nachher beim Abschluss der Lehre, nirgendwo lacht Annerose. Dabei lachte sie oft, nur nicht auf Fotos. Elsa, sagte er, Elsa geht jeden Tag auf den Friedhof; so, als müsse sie sich vergewissern.
von assotsiationsklimbim am Samstag, 4. September 2010, 10:11 unter archiv10