Anna Kim

Anna Kim

Anna Kim liest im Kurhaussaal aus "Die gefrorene Zeit":

Anna Kim (Real Audio Stream)

Dominik Bernet

Dominik Bernet und Urs Heinz Aerni

Dominik Bernet wird moderiert von Urs Heinz Aerni und liest aus "Der große Durst":

Dominik Bernet (Real Audio Stream)

O.P. Zier

O.P. Zier

Markus Köhle moderiert O.P. Zier an, der aus "Tote Saison" liest. Die Aufnahme endet leider recht willkürlich, weil der Akkus des Aufnahmegerätes ausging, aber da es sich um einen Krimi handelt, bleibt es so auch spannend.

O.P. Zier (Real Audio Stream)

Joyce Johnson

Joyce Johnson

Joyce Johnson liest einen Text über Jack Kerouac:

Joyce Johnson (Real Audio Stream)

Arne Rautenberg

Arne Rautenberg

Arne Rautenberg bei seiner Lesung verschiedenster Gedichte im Kurhaussaal, anmoderiert von Magdalena Kauz:

Arne Rautenberg (Real Audio Stream)

...

Und jetzt auf in die Wäschei P, die restlichen Audio-Mitschnitte von heute dann wohl morgen hier...

Andriy Lyubka

Andriy Lyubka

Andriy Lyubka liest am Freitag in Saal 1 aus "Terrorism", Thomas Gassner übersetzt, Robert Renk und Pate Juri Andruchowytsch moderieren:

Andriy Lyubka (Real Audio Stream)

Felicitas Hoppe

Markus Köhle und Felicitas Hoppe

Markus Köhle moderiert Felicitas Hoppe in gewohnter Manier ("ein Kurzurlaub mit poetischer Vollpension") an, hier ein Mitschnitt eines Teils der Lesung, die den Zusammenhang von Meer und Bergen erklärte, und zwar aus "Der beste Platz der Welt":

Felicitas Hoppe (Real Audio Stream)

Jack Hirschman

jack hirschman und ernst gossner

Jack Hirschman las am Freitag im Saal 3 aus seinen als "the brick" bezeichneten Arcanes, Ernst Gossner die deutschen Übersetzungen. Die Tonaufnahme gibt es hier:

Jack Hirschman (Real Audio Stream)

Helmut Schönauer

helmut schönauer

Helmut Schönauer eröffnet das Sprachsalz-Festival 2009, einen Mitschnitt seiner Lesung gibt es hier:

Helmut Schönauer (Real Audio Stream)

Und in wenigen Minuten...

... geht es auch so richtig los, Fotos, Aufnahmen, Videos und Liveberichterstattung dann demnächst hier am Sprachsalz-Weblog

Es geht langsam los...

Heute Abend werde ich persönlich leider nicht beim schon traditionellen Sprachsalz-Empfang für die AutorInnen und MitarbeiterInnen dabei sein und davon fürs Weblog berichten können, da ich bei Text ohne Reiter sein werde, aber ab morgen werde ich live vor Ort sein und berichten.

Hier noch einmal der Hinweis aufs Programm, ich freue mich schon auf drei Tage Literatur, und wäre Sprachsalz nicht abstrakt, es freute sich auch.

Felicitas Hoppe

Von Felicitas Hoppe gibt es einen kurzen Auszug aus Der beste Platz der Welt, erschienen bei Dörlemann.

hoppes bester platz


Auszug aus: "Der beste Platz der Welt"

Einsiedeln heißt, einen Platz finden, einen
Ort, eine Stelle. Oder wenigstens eine Ecke,
etwas, woran beim wiederholten Versuch, im
Dunkeln doch noch voranzukommen, plötz-
lich unerwartet der Fuß stößt und Halt
sucht, in der Hoffnung, auf eine Schwelle zu
stoßen, vielleicht sogar auf eine Stufe nach
oben. Man steht also still und holt Luft. Und
beschließt unvermutet, länger zu bleiben,
weil man der Versuchung einfach nicht wi-
derstehen kann, genau hier auf der Stelle auf
den Morgen zu warten und dabei zuzusehen,
wie es zwischen den Bergen langsam hell
wird, damit man endlich von oben ins Tal
blicken kann, um zum ersten Mal den Atlan-
tik zu sehen. Denn bis heute ist wenig be-
kannt, dass, wer wirklich den Ozean sehen
will, egal ob atlantisch oder pazifisch, hinauf
in die Walliser Berge muss, weil sich das
Meer nicht vom Meer aus erkennen lässt.
Erst von hier oben lässt sich begreifen, was
die Versenkung in einen Anblick bedeutet,
während man unten, von Bewegung und
Wellen umzingelt, nichts betrachten kann,
weil alles vorüberzieht.

Pavel Schmidt

Von Pavel Schmidt gibt es gleich zwei Texte - beide ohne Titel.

pavel schmidt


(ohne Titel)

jene gruppierungen von menschen, die sich gemeinsam einer körperertüchtigung hingeben oder im besonderen, im rahmen ihrer gemeinsamen körpertätigkeit eine spielart betreiben, sind als eine gemeinschaft anzusehen. diese gemeinschaft von gleichgesinnten pflegt man üblicherweise als eine mannschaft zu bezeichnen. dieser sprachlichen gepflogenheit entsprechend, ist eine mannschaft eine auswahl von ausübenden (eben einer körperlichen betätigung) zu einem bestimmten zweck. sei es ein wettkampf, sei es eine freundschaftsbegegnung oder ein länderkampf oder ein kräftemessen oder ein treffen von ehemaligen (veteranentreffen). die mannschaft ist also eine auswahl – in der regel der besten und geeignetesten – eines vereines, eines verbandes, einer riege, eines landes, einer nation.

„mannschaft: mittelhochdeutsch „manschaft“ hat verschiedene bedeutungen, die einem abstraktum oder kollektiv zukommen: „status des (lehens- ) mannes“, „gefolgsleute“. die kollektive bedeutung setzt sich durch und wird verallgemeinert.“ (aus: kluge, etymologisches wörterbuch der deutschen sprache)
aber eine mannschaft setzt im allgemeinen verständnis voraus, dass dieselbe aus männlichen teilnehmern beziehungsweise mitgliedern besteht. erstaunlich und auffallend verwirrend erweist sich, wenn die berichterstattung in überaus ernsthafter, deutsch-sprachiger tagespresse von einer frauen- oder damenmannschaft spricht...
es werden auch vorstellungen und erinnerungen wach, an jene wettkampfteilnehmerinnen und –teilnehmer, deren geschlecht oder geschlechtsartung, selbst in der spärlichen, berufsüblichen bekleidung nur schwer oder gänzlich unmöglich auszumachen war und ist.

während sich eine frauenmannschaft geschlechtlich aufhebt (neutralisiert) oder ins ungeschlechtliche oder zwei- oder zwiegeschlechtliche abgleitet, bedeutet hingegen – erweitert – die ergänzende begrifflichkeit der herrenmannschaft eine art verdoppelung beziehungsweise quadratur im sinne einer potenzierung (mannesmann/herrenmänner). oder ist es eine tautologie oder ein pleonasmus oder dient die bezeichnung herrenmannschaft vielleicht zur steigerung der ehrfurcht des gegnerischen teams, der „équipe“ oder der „squadra“.

(diese sprachlichen umständlichkeiten und uneindeutigkeiten – von unzulänglichkeit soll hier nicht die rede sein ­– verleiten häufig zur übernahme des englischen leihwortes. obwohl der gebrauch von „team“ sich zunehmender beliebtheit zu erfreuen beginnt, verschafft er unter umständen irreführende beziehungsmöglichkeiten: „der trainer“ beziehungsweise „der masseur der damenmannschaft“, „er stiess ins team“, „sorgte im team für unruhe“ und so weiter.)

bedenklich wird dieser sprachliche geschlechtswitz, wenn es sich um mannschaften wie landsmannschaften handelt, der vertriebenen etwa...
trotz geschlechtsunbestimmtheiten, weil weder mittlerweile vertrieben noch ansässig, offenbart sich also der gemischtgeschlechtliche fortbestand der mannschaften: landsfrauenmannschaft, auch gartenzwerge bewegen sich auf ähnlicher ebene, sind den mannschaften entsprechend männlich, ob vertrieben oder ansässig oder gesprengt oder wiederhergestellt, taucht zwangsläufig die frage auf, wie die erhaltung ihrer art fortpflanzendermassen gewährleistet wird: gartenzwerginnen.
befremdend in dieser beziehung oder anspielend anmutig erscheint allerweil die redensart, dass eine frauenmannschaft auf vordermann zu bringen wäre.


(ohne Titel)


im zuge mannigfacher begegnungen, meistens unvorhersehbarer gestaltung, vermehren sich die bekanntschaften mit schaffnern in durchhängend ausgeweiteter dienstbekleidung und meistens sehr scharfen bemerkungen zur allgemeinen lage.

wurstmaden lassen nicht allzu lange auf sich warten, vorausgesetzt, die bedingungen sind günstig.

so lassen die kleinigkeiten des äusseren kaum noch spielraum übrig für sich verdrehende andeutungen von wahren ansichten. wesentliches wird verschwindend ungenau unter den wachsenden auswirkungen von unabdingbaren eindrücken.

vermehrungsbeobachtungen unter den maden werden feststellbar, bis die wurst gänzlich verschwindet.

entsprechendes traf im mai 1953 im tierpark hellabrunn ein, als ein zitteraal gymnotus electricus, ein ansonsten sehr zahmes und umgängliches tier, dem tierpfleger, emil ertner, beim füttern einen so heftigen elektrischen schlag versetzte, dass er beinahe ins becken gestürzt und ertrunken wäre. er wurde betäubt am beckenrand von seinen entsetzten kollegen aufgefunden. glücklicherweise hinterliess dieser unerwartete elektrische schlag keine weiteren folgen. 1939 gelingt es im berliner zoo geheimrat prof.dr.l.beck, der übrigens einen überaus üppigen haarwuchs vorzustellen hatte, zusammen mit dr. oskar heimroth, eine, an den zitteraal angeschlossene 40-watt glühbirne zum leuchten zu bringen, zu einer zeit, in der manche menschen mit der auszurottenden brut der ratten verglichen wurden.

wurstmadenzustände unerschrocken anzuerkennen, ist nicht sehr häufig. vielleicht ist es ratsamer, die maden sich vermehren zu lassen oder die würste viel schneller aufzufressen.

die zeit der prügelnden häscher, der knüppelnden aufstreber, der mordenden gehorsamstreiber, sie versuchen nach der geschehenen willkür zu vernebeln, verdampfen zu lassen und berufen sich auf schwerlich nachvollziehbares: schaffner in zügen der menschlichkeit, fortwährend menschliches.

die anlage einer made in der wurst ist in wesentlichen zügen vorhersehbar.

im rahmen des nicht zu stillenden forschungsdranges nach menschlichen ursprüngen, liess man affen malen und zeichnen. desmond morris stellte auswertend fest, dass die ergebnisse denjenigen von kleinkindern durchaus gleichen. in diesem sinne geraten auch manche hervorbringungen moderner kunst in den zusammenhang des vergleiches, was freilich nur bei ganz wenigen, verwegenen decklern und unentwegten draufhauern zur erwähnung kommt. ein, zu dem herzen des volkes sprechendes, mutiges entgegentreten zur rettung der menschheit und ihrer grösse erscheint als beweisbare offensichtlichkeit, den es spricht das wahre an.

der tag der made in der wurst kommt in jedem haushalt vor.

unbestimmt verlagern sich die begriffsbestimmungen von menschlich-unmenschlich, tierisch-untierisch ineinander, wobei das tierische eigentlich jeglicher tugendhaftigkeit entbehrt und abwertend im alltag dasteht. das menschliche hingegen, immer höhere werte beinhaltend, erhebt sich über das unmenschliche, was dem tierischen nahe kommt, ebenso entspricht dann das untierische dem menschlichen. von weitreichender verwirrung zeugen die tatsachen der menschenvernichtung, der tierversuche, des gegenseitigen fressens. verklärungen von bedeutungen und ihrem umgang überschlagen sich bis zur aufnahme der nächsten nahrung. „vor allem haben die termiten ein für alle mal vollkommener, wissenschaftlicher als jedes andere tier, mit ausnahme vielleicht gewisser fische, das hauptproblem jeden lebens, das problem der ernährung gelöst. sie nähren sich ausschliesslich von zellulose, die nächst den mineralien der verbreiteste stoff auf erden ist, bildet sie doch den festen bestandteil, das gerüst alles pflanzlichen. überall, wo es holz, wurzeln, dornen, irgendein gras gibt, finden sie also unerschöpfliche vorräte“, so maurice maeterlinck in seinem werke „das leben der termiten“, also könnten die termiten vielleicht tierischer sein wie etwa die haie, oder untierisch oder sogar menschlich. künstler sind eine gruppe jener menschen, die eine wundervolle verbindung von grübeln und handeln gefunden zu haben scheinen. obgleich sie eine fülle menschlicher kenntnisse übermitteln, tragen sie doch überall die blutvolle farbe erlebter und erkämpfter überzeugung. mit hellem kopf und warmen herzen untersuchen sie neue möglichkeiten des gesellschaftlichen, geschäftlichen und häuslichen lebens, vor allem auch die des hauptbestandes der sittlichkeit und des liebeslebens: (menschliche künstler, unmenschliche bösewichte, tierische triebtäter.)

das leidenschaftliche leben der wurstmade erbittet rücksicht und geduld.

aufreizend zur verfügung, sich um nichts kümmernd, erhöht sich nach mitternacht die neigung zu allerlei getränken, diesbezüglich sich auch weitere verwirrungsspiele lallend aus dem unzusammenhängenden herausgraulen. missdeutungsträchtig das sos-zeichen, welches für die rettung des menschlichen lebens steht. oft sind es körperteile um die es geht (angebrachter wäre vielleicht sob: „save our bodies“ zu verwenden. pannen, leichtsinn, unvorsichtiges handeln führen zu unfällen mit teilweise tödlichem ausgang, den „save our souls“ bemühungen zum trotz. neuerdings wird es auch im zusammenhang mit der tier-, ja sogar der pflanzenwelt und der erde überhaupt verwendet.

die maden tauchen immer wieder auf, sie verlassen sich dabei nur auf die menschen.

für die rettung von seelen sind bekanntlich viele andere anstalten, gruppierungen und gemeinschaften wesentlich zuständiger, als die verschiedentlich untergebrachten erste-hilfe-einheiten und einsatzunterschiedlichen rettungsdienste.

Juri Andruchowytsch

Juri Andruchowytsch schickt uns als Kostprobe einen Ausschnitt aus seinem gerade in Arbeit befindlichen Städte-Text.

Juri Andruchowytsch


ODESSA, 1994

Dem Wort „Odessa“ haftet schon ein ganz besonderer Flair an, vor allem für diejenigen, die nie dort waren. Wie oft ist es mir passiert, dass meine Gesprächspartner vor Erregung zu zittern begannen, kaum hatte ich ganz nebenbei „Odessa“ erwähnt. Odessa kennt man in aller Welt. Genauer gesagt: Man kennt es nicht, obwohl man es kennt. Am korrektesten wäre also zu sagen, dass man Odessa nicht kennt, das aber in aller Welt. Denn alle Welt weiß davon, vor allem aus Sergei Eisensteins Film. Ich aber kenne es seit den Sommerferien 1969. Odessa war in Wirklichkeit die Kotowskij-Siedlung, also Lusaniwka. Meer und Strand in nichts zu vergleichen mit der Südküste der Krim, und in keiner einzigen Buchhandlung gab es auch nur ein einziges Buch von Jules Verne, obwohl es doch angeblich eine Hafenstadt war. Der Strand war unerträglich dreckig und wimmelte nur so vor Fliegen
und ihren Larven, schlimmer aber noch war eine Art angrenzende Grünanlage, wo unter jedem Busch ein Haufen Exkremente unterschiedlichen Alters lagerte.
Dann kamen andere Sommerferien, Mitte der Siebziger. Das ist wenn über der Oberlippe schon der Bart sprießt und man wahnsinnig gerne Sex haben möchte. Damals traf mich jener Sonnenstich, in dessen Folge ich plötzlich Dichter wurde. Wenn ich „Sonnenstich“ schreibe, dann sollten Sie das nicht wörtlich nehmen. Plötzlich durchdrang mich einfach alles – als habe mich jemand von oben mit einem heißen Speer durchbohrt. Gerade, als ich, nur in Badehosen, mitten auf dem Strand stand!
Als Folge dieses Speerwurfs kam ich etwas mehr als achtzehn Jahre später wieder nach Odessa, diesmal von See. Es handelte sich um ein griechisches Kreuzfahrtschiff mit sechs Decks, in Piräus in See gestochen, das ohne einen Hafen anzulaufen die Ägäis, das Marmaris- und das Schwarze Meer durchquert und am Passagierhafen von Odessa angelegt hatte. Aus ihm ergoss sich unser ganzer Stall voller Schriftsteller, an die vierhundert Personen.
Schriftsteller sind im Westen meistens links – die guten, die nicht ganz so guten und die ganz miesen. Das bedeutet weniger Zugehörigkeit zu einer Partei als eine gewisse weltanschauliche Grundeinstellung oder – noch ungewisser –gesellschaftliches Gestikulieren. Mir erscheint dieser linke Non-Konformismus immer als eine besondere Form des Milieukonformismus, demzufolge es peinlich ist, kein linker Schriftsteller zu sein. Nicht links sein bedeutet, ein bürgerliches Schwein zu sein. Und was kann schlimmer sein?

Aber zurück nach Odessa. An jenem nasskalten Novembernachmittag, kurz vor der früh hereinbrechenden Abenddämmerung, ergossen sie sich über den Passagierhafen wie eine vierhundertköpfige Tsunami-Herde. Sie wollten Odessa – ohne Zweifel. Was sie brauchten, war die Potemkin-Treppe mit dem Kinderwagen. Und dazu rote Fahnen, KGB, Hafenhuren. Sie fingen bei den Geldwechslern an und überschütteten sie mit kleinen Dollarscheinen. Dafür erhielten sie riesige Päckchen hyperinflationärer Kupon-Karbowanzen. Eine Fünfdollarnote war Hunderte dieser schmierigen, verschieden oder vielmehr gleich widerlich gefärbten Papierchen wert.
Dann machte jeder von ihnen etwas, wofür ich sie zum ersten Mal zu hassen begann. Sie fotografierten sich mit diesen ekligen verschiedenfarbigen Päcken, fächerten sie auf, wenn es ging, stopften sich damit die Taschen voll und krümmten angestrengt ihre Buckel. Wie Kinder freuten sie sich über diese Geldmasse, aber das waren böse Kinder.
Zum zweiten Mal hasste ich sie, als sie sich auf die gleich hinter den Geldwechslern aufgebauten Stände stürzten und diesen Gaunern alles abkauften, was sie in die Finger bekamen – Matrjoschkas, Militärhelme, Kappen aus Kaninchenfell, Soldatenmützen mit Ohrenklappen, Lenin-Stalin-Porträts, Orden und Medaillen der Sowjetunion, Samoware, Filzstiefel, wattierte Jacken „Kufajka“, Koppeln, Raketenrampen, Generalssterne, dann wieder Matrjoschkas und von vorn im Kreis immer dasselbe. Ihnen schien, sie erlebten den letzten Ausverkauf der Bruchstücke einer besiegten, doch immernoch attraktiven Welt. Dabei fotografierten sie ununterbrochen – in der dichter werdenden Dämmerung unter immer häufigerem Blitzen, eine letzte apokalyptische Session vor Einbruch der vollkommenen Finsternis, schon in Soldatenmützen und Uniformmänteln und Drillichhosen, Orden und Sterne an der Brust, mit Balalaikas, Kalaschnikows und Ikonen.
Als hätten sie diesen ganzen Kommunismus zum Teufel zertrümmert, und tanzten jetzt auf seinen Überresten. Oder anders – als ob sie gekommen wären, seine letzten Reste zu retten, um ihn wieder zusammenzusetzen.
Wie gut, dass wir noch am selben Abend von Odessa nach Constanţa weiter fuhren und sie nicht mehr dazu kamen.

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.

Alex Capus

Alex Capus erklärt uns in seiner Textprobe, wie er zum Schreiben gekommen ist.

Porträt von Alex Capus, © Ayse Yavas


Piazza September 09

Manchmal fragen mich die Leute, wie ich zum Schreiben gekommen bin und wo ich es gelernt habe. „Na, bei Fräulein Brotschi“, sage ich dann. „Im Sommer und Herbst 1968, und zwar im Sälischulhaus in Olten.“ Fräulein Brotschi hat mir alle sechsundzwanzig Buchstaben beigebracht, und mit denen habe ich noch im selben Jahr meine erste Indianergeschichte geschrieben in ein kariertes Schulheft.
Übrigens ist es erstaunlich, wie viele Schweizer Schriftsteller in Olten lesen und schreiben gelernt haben. Peter Bichsel hat ebenfalls bei Fräulein Brotschi lesen und schreiben gelernt. Im Sommer und Herbst 1942 muss das gewesen sein, und zwar im Bifangschulhaus, weil es das Sälischulhaus damals noch nicht gab. Er ist am Pfarrweg 9 aufgewachsen, gleich neben der reformierten Kirche, ich im mittleren Hochhaus am Mühletalweg 5 im achten Stock. Zwei Etagen über uns wohnte mit seinen Eltern Rolf Lappert, heute Träger des Schweizer Buchpreises 2008; er war aber nicht bei Fräulein Brotschi, sondern im Schulzimmer nebenan bei meiner Mutter, die von Kindern und Eltern Fräulein Capus gerufen wurde, worüber sie sich vergeblich furchtbar ärgerte; denn damals war eine Lehrerin einfach ein Fräulein, daran war noch nicht zu rütteln.
Nur achthundert Meter westlich, an der Reiserstrasse 4, ist Franz Hohler aufgewachsen; der müsste ums Jahr 1950 eingeschult worden sein, wahrscheinlich ebenfalls im Bifangschulhaus. Ob auch er bei Fräulein Brotschi war, weiss ich nicht. Ich wollte ihn fragen, aber er ist auf Bergtour.
Nicht bei Fräulein Brotschi, sondern bei Fräulein Irma Schenker im Hübelischulhaus hat Ulrich Knellwolf lesen und schreiben gelernt. Er wohnte erst an der Solothurnerstrasse 276 an der Grenze zu Wangen, dann an der Rainstrasse 10, von wo sein Vater es nicht weit hatte zur Arbeit in die Usego. Ein alter Drachen sei Fräulein Schenker gewesen, sagt er sechzig Jahre später, und die Buchstaben habe man bei ihr an der Wandtafel aneinander schieben müssen wie Güterwaggons im Rangierbahnhof.
Meine Fräulein Brotschi hingegen war eine warmherzige, distinguierte Dame kurz vor dem Pensionsalter mit Hang zur Anthroposophie, die unsere Bleistifte stiftsparend mit einem Messerchen spitzte und uns gelegentlich etwas auf der Geige vorspielte. Wenn wir krakeelten und Papierkügelchen schmissen, musste sie manchmal ein wenig weinen. In jenem Sommer 1968 wusste schon niemand mehr, dass sie zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ein hübsches junges Mädchen gewesen war, das unglücklich verliebt war in einen Oltner Lehrer und SP-Nationalrat; Peter Bichsel aber erinnert sich bis heute, dass er ihre Billets doux als Postillon d’amour dem grossen Mann überbringen musste, und dass dieser dann postwendend antwortete und Peterlis Rücken als Schreibunterlage benutzte.
Angesichts dieser Dichterdichte an den Oltner Schulen liegt die Vermutung nahe, dass es die pädagogischen Fähigkeiten von Fräulein Brotschi, Fräulein Capus und Fräulein Schenker waren, die uns zu Schriftstellern machten; dagegen spricht allerdings die grosse Zahl von Autoren, die in Olten zu produktiven Schriftstellern heranblühten, zuvor aber das Alphabet auswärts erlernt hatten. Urs Faes ist ein Aargauer, aber die meisten seiner Bücher hat er in Olten an der Feigelstrasse geschrieben, wo übrigens auch Ruedi Bussmann aufgewachsen ist. Otto F. Walter ist zwar in Rickenbach geboren, aber zu schreiben begonnen hat er in Olten an der Gallusstrasse, und seine Schwester Silja Walter hat ihre frühesten Gedichte am Amthausquai mit schönem Blick auf die Aare geschrieben. Herbert Meier ist zwar unbestrittenermassen ein Solothurner, aber seine Frau ist in Olten an der Bleichmattstrasse, an der ich heute wohne, gross geworden. Der junge Slam-Poet Kilian Ziegler ist wohl in Trimbach aufgewachsen, aber so richtig aufgeblüht ist er erst, seit er sich in Olten rumtreibt.
An den Lehrerinnen kann es also nicht liegen, dass alle in Olten zu schreiben anfangen. Ich glaube, die tun uns etwas ins Trinkwasser.

Olten, 19. August 2009

Programm online

Für sehr langfristig Planende gibt es gute Neuigkeiten: Das genaue Programm des heurigen Sprachsalz ist online. Zu großer Planungsaufwand ist aber nicht von Nöten: Auch heuer lesen wieder alle AutorInnen zumindest zweimal, sodass trotz paralleler Lesungen auf niemanden verzichtet werden muss.

Und der Rest der Sprachsalz-Website ist natürlich auch den Besuch wert, z.B. gibt es dort ausführliche Informationen zu den AutorInnen und, wie man so schön sagt, vieles mehr.

Textkostproben der AutorInnen und die aller-allerneuesten Informationen aus erster Hand gibt es aber natürlich nur hier am Sprachsalz-Weblog.

Andrea Gerster

Von Andrea Gerster können wir einen Auszug aus dem Erzählband Mimosa fliegt (erschienen 2009 beim Bucher Verlag) präsentieren.

Mimosa. (c) Klaus Schmetz, Bildhauer, Aachen


Menschen wie Walter

Walter D. sitzt mit einer Frau um die vierzig in einer Bar. Sie sagt, jetzt wo sie um die vierzig ist, möchte sie verheiratet sein. Das sei nun ab sofort ihr Ziel. Jeder brauche ein Ziel.
«Weshalb?», fragt Walter D. die Frau um die vierzig.
«Um das Leben auszuhalten», sagt sie.
«Ich hatte noch nie ein Ziel und halte es trotzdem aus», sagt er.
Walter D. hat die Frau um die vierzig im Internet kennen gelernt. Im Chat. Dort treffen sich viele Menschen um die vierzig. Wenn die Frau um die vierzig im Chat gesagt hätte, dass sie um die vierzig ist, dann wäre sie rausgeflogen. Im Chat sagt niemand die Wahrheit. Da ist keiner um die vierzig. Da sind alle um die fünfundzwanzig und fünfunddreißig. Da sind alle groß und schlank. Da sind alle attraktiv und kulturinteressiert. Gut gebildet und verdienend auch. Walter D. ist gerne im Chat.
«Weil da interessante Leute sind», sagt er, «mit denen kann man über alles reden. Über Gott und die Welt. Über Gefühle und Ängste. Da spricht man über Dinge, die eigentlich keinen was angehen, die man sonst für sich behält. Aber im Chat geht alles.»
Im Chat hatte er einmal sogar Sex.
«Keinen wahnsinnig leidenschaftlichen Sex», sagt er, «aber einfachen, soliden, sozusagen handgemachten, aber trotzdem Qualität, mit Kathie. Da kann man sich nichts holen, da bleibt man gesund, investieren muss man auch nichts, finanziell meine ich, auch emotional nicht.»
Die Frau um die vierzig sagt, das wäre nichts für sie, Sex im Chat sei doch Unsinn, sei doch banale Selbstbefriedigung, wer weiß, vielleicht sei Kathie ja ein Mann gewesen.

Anna Kim

Anna Kim stellt uns eine Leseprobe aus Die gefrorene Zeit, erschienen 2008 beim Literaturverlag Droschl, zur Verfügung.

anna kim, © roland dreger 2008


(aus: Die gefrorene Zeit)

Du hast beschlossen zu berichten, doch manchmal zittern die Hände, ein Zwillingszittern, wie das der Worte, ein Nachbeben im Hals; starrst auf die Tür, als wäre sie ein Fenster und in ihr unvergessliche Landschaft, dann ein Erwachen, du kramst in der Hose und legst den Reisepass deiner Frau, ein schmales Fotoalbum sowie die Heiratsurkunde auf den Tisch.
Der Ante-Mortem-Fragebogen: Zweiundzwanzig Kapitel, die die Kennzeichen einer vermissten Person, Merkmale, die jene zu Lebzeiten, ante mortem, besaß, festhalten mit dem Ziel, durch Analyse und Vergleich mit Gebeinen, Knochenstücken, Daten post mortem, fündig zu werden. Der Fund ist nicht die Person, sondern ihr Rest. Das Innerste, wenn man so möchte, andererseits das Äußerste, im Sinne von Letzte, Allerletzte, und doch sprechen sie von Identität, die Vermissenden und Suchenden, meinen vollkommene Übereinstimmung mit, zugleich innere Einheit der Person, die Ebenen vermischen sich, scheinen untrennbar: Es lässt sich nicht vermeiden, die Leiche wird zum Individuum. Wie lange kann sich dieser Gedanke halten, doch nur solange das menschliche Fragment nicht gesehen wurde, solange das Totsein eine Abstraktion,
eine Idee bleiben darf.
Dem Toten ist es gleich, ob seine Identität gefunden wird oder nicht, für ihn spielt es keine Rolle mehr, ob er eine besitzt oder ob sie während der letzten Jahre verloren ging; sie existiert aus seiner Warte nur für die anderen, nicht für ihn selbst. Wird sie schließlich gefunden, ist sie körperlich und zufällig; zufällig, da es nie wirklich um sie, sondern lediglich um die Zuordnung ging.

Identität laut Fragebogen ist klar bemessen, sie setzt sich zusammen aus Geschlecht, Alter, Krankheit, Kleidung, Augenzeugenberichten und Zufallsbegegnungen. Im Sprechen unternehmen wir den Versuch, die verschwundene Person einzukreisen, festzuhalten, festzulegen. Vielleicht ist es ja wahr: Die Einzigartigkeit eines Menschen, seine Identität?, ist tatsächlich unsterblich, sie kann noch lange nach seinem Tod gefunden werden; jeder Satz ist eine Handlung, jedes Wort wird verwendet: Identität sprechend zu stiften, Identität zuzusprechen, nagt an der Substanz, da anstelle eines Menschen gesprochen wird, das Stapfen in unbekannten Fußspuren immer Nummern zu groß; die Fremdperspektive entfremdet zusätzlich –
und ein besonderes Kennzeichen stiehlt allen anderen die Schau: das Verschwundensein mutiert zum Muttermal auf der Stirn, zur Narbe an der Wange; zur Vorliebe fürs Schwimmen im Regen, Schlendern auf Straßen nach Mitternacht.

Sprachsalz Trailer II


Der zweite Trailer fürs Sprachsalz 2009

Helmut Schönauer

Helmut Schönauer

Als zweite Textkostprobe der heuer beim Sprachsalz lesenden AutorInnen präsentieren wir einen Strauß Rezensionen von Helmut Schönauer, die Textsorte, die sein Schaffen zumindest quantitativ dominiert. Es frägt sich direkt (neidvoll), woher er bei so viel Lektüre bloß die Zeit zum Schreiben hernimmt.


GEGENWARTSLITERATUR 1710
Meilengewinner
Im Flugverkehr gibt es fallweise so etwas wie Bonus-Meilen oder Vielfliegergratifikationen. Am Boden ist ein Meilengewinner offensichtlich jemand, der sich selbst mit dem Absolvieren von Meilen belohnt.
Das Hauptthema im Roman ist die Gelassenheit und Beiläufigkeit, mit der die Figuren unterwegs sind. Der Ich-Erzähler strolcht mit sich im Süden herum, trifft ununterbrochen neue Leute, trinkt mit diesen, ehe die zufällig zusammengekommenen Grüppchen sich wieder in alle Winde zerstreuen. Wie in dieser internationalen Vaganten-Szene üblich, werden oft nicht einmal mehr die Namen genannt sondern bloß die Nationalitäten, der Deutsche, der Schwede, der Pole.
Natürlich ergeben sich immer wieder Frauengeschichten, die aber an Zufälligkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
„Wir waren wie zwei Figuren aus einem Puppentheater.“ (199)
Man zieht ins Hotel, solange das Geld reicht, manchmal kriegt man von einer Stadt nichts mit, wenn gerade heftige Liegezeit im Zimmer ausgerufen ist.
Wenn das Geld ausgeht, heißt es, schnell eine Arbeit annehmen, wobei die Arbeit dann eher wieder meditativ gelassen erledigt wird, ein bisschen Obstpflücken, ein bisschen Früchte sortieren, viel reden, zusammensitzen und trinken, so lässt sich sogar die Arbeit aushalten.
„Der Winter zwängte sich vorüber, und die Zeit war schlecht, und dem war nicht abzuhelfen. Vielmehr schälte die Sonne meinen Schädel und knackte die Schale und legte den Kern frei. Die Sonnenstrahlen brieten mein Gehirn in Dimitris‘ Feldern, der Staub war das Paniermehl.“ (126)
Als einmal die Kohle wirklich aufhört zu sprießen, muss der Erzähler kurz zurück in die Alpen und mit einem Schweizer Wanderkollegen zu Hause Geld abholen. Dann geht es wieder stracks in die Türkei, Izmir wäre zwar leicht zu erreichen, aber das Ziel heißt Gümüldür, weil es besser klingt. Freilich gelingt auch bei einem zielfreien Leben nicht alles. „Gümüldür erreichten wir nie im Leben.“ (260)
Stephan Alfares Roman ist ein philosophischer Kraftakt in Richtung anything goes. Zeit und Ort spielen keine Rolle, Kohle kommt oder kommt nicht, wenn genug zu Trinken da ist, ist der Tag gerettet, an besonderen Tagen lässt sich durchaus auch einmal eine etwas kräftigere Haluzination einwerfen. Dieser Roman ist ein gutes Durchhalte-Medikament, wenn den Leser irgendwo im Nebel der Alpen der nackte Arbeitstag in voller Sinnlosigkeit auffrisst. Man gewinnt dann die Meilen der Freiheit durch schieres Lesen

Stephan Alfare: Meilengewinner. Roman.
Wien: Luftschacht 2008. 318 Seiten. EUR 21,90. ISBN 978-3-902373-35-9
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GEGENWARTSLITERATUR 1712
Europa kreuzweise
Du kannst mich mal kreuzweise! – Diese Fügung bedeutet allgemein, dass jemand von einer Sache oder Person ziemlich genug hat.
Blixia Bargeld verwendet diesen satten Begriff „kreuzweise“, um einerseits die Abgeklärtheit gegenüber Europa als Geographie auszudrücken und andererseits zu erzählen, dass er jeden Winkel des Kontinents irgendwann einmal aufgesucht hat.
Blixia Bargeld ist Sprachkünstler, Philosoph und Texter, und quasi als Tarnung ist er Chef der Band „Einstürzende Neubauten“. Mit der Litanei nützt er die Möglichkeit, die Schattenseiten von Musikertouren aufzuzeigen, die Kunst in allen Variationen anzurufen und ab und zu auch noch praktische Hinweise beim Aufsuchen interessanter Städte unterzubringen.
Der Ich-Erzähler tourt mit dem Band-Bus durch die Gegend, oft artet die Tour in pure Tortur aus. Die einzigen Freuden sind exquisite Speise-Lokale, sie verschaffen sinnliche Berührung mit der Gegend und Gegenwart, den gutes Essen blitzt wie ein Komet nur kurz und konkret im Weltall der Sinneseindrücke auf. Einmal entschuldigt sich Blixia Bargeld beim Leser, dass es verrückt aussieht, wenn jemand nur von einem Speiselokal ins nächste wechselt. Aber zum Ausgleich geht er auch in Museen und beschreibt die gesehenen Eindrücke wie eine Speisekarte. Apropos Speisekarte, in der Litanei sind auch die wichtigsten Menüs verzeichnet, wie ein Kochbuch auf SMS-Basis werden die rasantesten Speisen heruntergebetet.
Die Textgattung Litanei entfaltet sich volles Rohr, wenn es darum geht, die jeweiligen Auftritte der Band zu dokumentieren. Jeder Abend gleicht vom Konzept her jedem Abend, um das zu begreifen, schreibt der Autor jeweils die Lokalität auf, und dann das Programm.
„Die Wellen / Nagorny Karabach / Dead Friends / Let’s Do it Da Da / Weil Weil Weil / Unvollständigkeit / Rampe – Von wegen / Die Befindlichkeit des Landes / Sabrina / Susej / Ich warte“ (72)
Der Programmablauf wird dabei zu einem Gedicht, später zu einem Halt stiftenden Mantra, schließlich zur Litanei, an der man sich an jedem Ort Europas aufrichten kann.
Trotz Müdigkeit, Kampf gegen das Abstumpfen, Sinnzweifel an jedem Ort gelingt es dem erzählenden Ich, jene Magie auszustrahlen, die das Publikum in die Musikhallen treibt und im Leser die Lust erweckt, die Orte der Europa-Litanei aufzusuchen.
Blixia Bargeld erzählt mit den scheinbar sich wiederholenden Methoden der Litanei von einem Europa, das jeden Tag Kunst in die Geschichte schmiert, damit die Geschichte nicht quietscht, wenn sie abläuft. Ein raffinierter, fröhlich-anarchistischer Zugang zur Kunst, zum Leben und zu Europa!

Blixia Bargeld: Europa kreuzweise. Eine Litanei.
St. Pölten: Residenz 2009. 123 Seiten. EUR 14,90. ISBN 978-3-7017-1500-8.



GEGENWARTSLITERATUR 1726
Der Hungerkünstler
Zu einer Zeit, als es noch kein Big Brother im Fernsehen gab, waren Hungerkünstler zur Unterhaltung am Werk, indem sie ihre Hungerei öffentlich zur Schau stellten. Franz Kafka hat in seiner gleichnamigen Erzählung so einen Hungerkünstler als ironisches Lichtbild eines idealen Künstlers entworfen, der Künstler wird darin einfach im Käfig vergessen und stirbt.
Bei Georg Elterlein tritt der Hungerkünstler als modernen Held voller Psychosen auf.
Der 19-jährige Andreas ist als Tennisprofi gescheitert und sitzt in der Psychiatrie. Mit seinem Arzt ist vereinbart, dass er erst wieder entlassen wird, wenn er mindestens fünfzig Kilo auf die Waage bringt. Andreas nämlich ist nicht nur ziemlich verstört und enttäuscht von der Welt, er hat auch einen verrückten Plan. Er will sich in einen entlegenen Landstrich irgendwo im Süden zurückziehen und dort verhungern.
Aber die Welt tickt oft anders, als es ideale Pläne vorsehen. Irgendwie bringt Andreas seine fünfzig Kilo zusammen und wird entlassen, gerade rechtzeitig um zu erfahren, dass seine Oma gestorben ist. Da Opa ziemlich von der Rolle ist, ergibt sich bald ein Lebenssinn, wenn der Enkel beim Großvater bleibt, wird vielleicht alles wieder gut.
Großvater hat einen Tick, er liebt Motoren und ist seinerzeit freiwillig in den Spanischen Bürgerkrieg eingerückt, weil es dort angeblich die besten Motoren weit und breit gegeben haben soll. Eine Studentin, Krähe genannt, pickt aus den verborgenen Erlebnissen des Großvaters die Erinnerungs-Brosamen heraus und schreibt eine Arbeit darüber.
Andreas fasst nun endgültig Fuß in der Welt, denn er verliebt sich in Krähe und kümmert sich um die Lebensgeschichte des Großvaters. So nebenher nimmt er einen Job als Garagenportier an.
Georg Elterleins Roman ist auf Happy end abgestellt. Alles wird gut, wenn man es richtig macht. Also man muss ein gewisses Grundgewicht haben, sich vom Vater lösen und dem Großvater zuwenden, und wenn man sich verliebt, tut man gut daran, wenn das Gegenüber wissenschaftlich sattelfest ist und eine Liebe für den Spanischen Bürgerkrieg entwickelt.
Na ja, irgendwie ist dieser Hungerkünstler doch ein artiger Schausteller geworden, der es uns Lesern so richtig zeigt, wie man aus einer Psycho-Krise gut herauskommt. Ein bisschen erinnert dieser moderne Hungerkünstler dann doch an ‚Big Brother‘ oder ‚Holt mich hier raus‘.

Georg Elterlein: Der Hungerkünstler. Roman.
Wien: Picus 2009. 310 Seiten. EUR 22,90. ISBN 978-3-85452-641-4.
Georg Elterlein, geb. 1961 in Wien, lebt in Wien.
Helmuth Schönauer 30/06/09



GEGENWARTSLITERATUR 1749
Rimbauds Kantine
Vielleicht ist die Poesie das Rauschen zwischen den Begriffen, von denen unerwartete Botschaften ins Zeileninnere ausgesendet werden. Vielleicht ist der Wahnsinn eine Abschweifung der Poesie, wenn Begriffe aus den Zeilen fallen.
Das poetische Ich steht in Peter Enzingers Prosagedicht jedenfalls gehörig unter Phantasie-Strom. Von der Dichtung gezeichnet, knapp am Absinth-Delirium, von der Sinnsuche entstellt kämpft sich das Ich durch die eigene Dichtung.
„Einst war ich Dichter und Waffenhändler, so sagt man, heute bin ich ein Kind geworden, das zur grünen Stunde mit Wörtermurmeln spielt. Man sagt, ich habe meinen Verstand verloren. Man sagt, ich habe ein Bein verloren. Mein Name sei Rimbaud.“ (59)
Zwischendurch tritt dieser Rimbaud aus sich selbst heraus und nimmt eine semi-haptische Figur der Literatur an. Bekannte Schriftsteller grüßen vom Prosarand in die Dichtung hinein, Verlaine nimmt sogar direkten Kontakt auf, während von Georg Heym bloß die langen Wimpern (91) vorüberwinken, während es ins nächste Zechgelage geht.
In den langen Klagen zwischen poetischen Zacken tritt zwischendurch so etwas wie ein Lebenslauf in Kraft, Rimbaud schwirrt beinahe Ort-los durch den Kontinent, geht mit Verlaine nach London und macht sich dann selbständig auf nach Afrika.
„Oft um mich zum Affen zu machen, rufe ich mich zum Dichter aus, wenn alle anfangen mich auszulachen, dann gebe ich mich als Giraffe aus, und wenn ich mich dann von Baum zu Baum schwinge, dann sagen alle, dass ich spinne […]“ (77)
Der Ton der Dichtung schwankt dabei zwischen Delirium und Singsang. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen der ausgerufenen Dichtung, dem literarisierenden Lebensstil und der evozierten Poetik.
„Lasst mich erzählen von den Räumen in denen Rimbaud wohnt. Dort strömen die Träume in die Zimmer und die Dämonen.“ (108)
Nur ganz vage gehen die Gedankenschwärme in konkrete Handlung über, Rimbauds Kantine lässt sich wie Rimbaud selbst nicht beschreiben.
Peter Enzinger stellt mit seinem Prosagedicht einen fulminanten Kosmos von Delirium und Dichtung auf die Beine. Während die Prosa quasi wie eine Kuchenform den Teig zusammenhält, geht dieser als Poesie auf und überwuchert die Form. Für literarische Rätselfans gibt es jede Menge verschlüsselter Nachrichten, für euphorische Leser eine Eruption aus Phantasie und Wahnsinn!

Peter Enzinger: Rimbauds Kantine. Prosagedicht.
Wien: Klever 2009. 110 Seiten. EUR 15,90. ISBN 978-3-902665-08-9.



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 1168
Drei Frauen
Vielleicht kann man ein Leben nur dann halbwegs beschreiben, wenn man gleich drei beschreibt. Ursula Haas verknotet in ihrem „Künstlerinnen-Roman“ drei Stränge ineinander, dabei erzählt sie in Ich-Du-Sie-Form.
Als Ich-Erzählerin führt die Schriftstellerin Lenka durch den Roman. Diese Figur ist teilweise autobiographisch angelegt, 1943 in Tschechien geboren ist das erste aufwühlende Ereignis die Flucht zu Kriegsende in den Westen. Lenka ist ein Leben lang recht fragil und kränklich, immer wieder mündet das Leben in einen reinen Überlebenskampf. „Ich muss mein Bett verlassen, damit der Tod mich nicht holt.“ (106) Eine wichtige Griffstange beim Überleben ist das Schreiben, Lenka wird Schriftstellerin und rätselt ein Leben lang, wie sie diese Rolle halbwegs gerecht zwischen Kunst und eigenem Empfinden anlegen kann.
Als Vergleichsschicksale dienen zwei Frauen. Einmal ist es die Bildhauerin Camille Claudel (1864 – 1943), die ein Leben lang im Schatten ihres Bruders Paul Claudel steht. Camille reibt sich eine Zeit lang an Auguste Rodin ab, aber gerade als sie eine eigenständige Kunst entwickelt, wird sie schwermütig und verbringt fast die Hälfte ihres Lebens in psychiatrischen Sanatorien. Ihr Schicksal wird im Roman jeweils in der Du-Form dargestellt.
In der sie-Form hingegen wird das Leben der Fotografin Tina Modotti (1986 – 1942) beschrieben, die als Künstlerin und politische Leitfigur in Italien, Mexiko und Südamerika Furore machte.
Die biographischen Daten der beiden Leitfiguren sind im Anhang ausführlich kommentiert.
Die Kernfrage für die Schriftstellerin Lenka ist freilich die Überlegung, wie man eine Biographie halbwegs authentisch und dennoch fiktivisch frei darstellen könnte.
„Ich muss eingreifen. Schreibend will ich weiter erfinden.“ (38) „Ich bin auf der Suche nach Menschen, ihrem Bezug zur Zeit und ihrem Sinn.“ (141) „Aus der Realität der Überlieferung entsteht die Fiktion. Die Erfindung verselbständigt sich durch die Worte.“ (279)
Allmählich entsteht nicht nur eine Biographie sondern auch eine kulturelle Umhüllung, die sich als Allgemeingeschichte um die jeweiligen Figuren legt. Und auch der Preis, den die Künstlerinnen in ihrer Zeit zu zahlen haben, wird nicht ausgespart. Psychiatrie, revolutionäre Ungemach, Krankenbett und Leben am literarischen Rand sind oft die Folge künstlerischer Tätigkeit.
Ursula Haas‘ Roman gleicht in der Erzählmethode ein wenig der Schlafwandler-Trilogie von Hermann Broch, wo ja auch die einzelnen Epochen jeweils mit dem sinnstiftenden Pronomen unterlegt sind. „Drei Frauen“, ein bereits von Robert Musil in die Literaturgeschichte eingebrachtes Label, erzählt umsichtig und mit Hingabe vom Versuch, ein künstlerisch dichtes Leben zu führen und dabei das Leben selbst nicht aus dem Auge zu verlieren.

Ursula Haas: Drei Frauen. Roman.
Innsbruck: Kyrene 2009. 332 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-900009-55-7.



GEGENWARTSLITERATUR 1750
Auspack und freu!
Wenn man sich erwartet, dass Literatur als Gebrauchsanweisung gelesen werden kann, dann muss man damit rechnen, dass echte Gebrauchsanweisung auch zu Literatur ausarten kann.
Jürgen Hahn, Fachmann für Technische Kommunikation, hat aus den unzähligen Gebrauchsanweisungen, die Geräten, Kosmetika und Versicherungspolizzen beiliegen, die verrücktesten herausgesucht.
Als verrückte Gebrauchsanweisungen bezeichnet man solche, die mit dem beschriebenen Gegenstand oder Vorgang nichts zu tun haben, so dass sie als eigenständiges Produkt gelten können.
Viele Beschreibungen geraten natürlich deshalb aus den Fugen, weil sie von unkundigen Übersetzern aus einer anderen Sprache verstümmelt und rein mechanisch ins Deutsche übersetzt werden. Aber es gibt auch Texte, die von vorneherein als Gebrauchsanweisung ungeeignet sind. Eine Maschine zu bauen ist die eine Sache, sie den Menschen zu erklären eine andere, heißt es sinngemäß bei Wittgenstein.
„Auspack und freu“ ist ein grandioser Titel für eine Sammlung von skurrilen Anweisungen. Der konkrete Befehl zur Auspackfreude stammt übrigens aus einer Gebrauchsanweisung für eine batteriebetriebene Weihnachtskerze. Und auch die Batterien kriegen gleich ihr Gebrauchs-Fett ab: „Fuer neue Batterie alt Batterie zurueck fuer Sauberkeit in deutscher Wald.“ (7)
Die Kunst der literarischen Gebrauchsanweisung gibt es, seit es Gebrauchsanweisungen gibt. In der Auspack-Sammlung sind Beispiele aus dem Jahre 1932 enthalten, wo etwa „Lebensmittel im Eisschlaf“ vorgestellt werden, dabei wird gleich eine ganze Lebensphilosophie inklusive Rollenbilder mitgeliefert. „Für jede Hausfrau gibt es besonders arbeitsreiche Tage, an denen ihr für das Vorbereiten und Kochen der Mahlzeiten nur wenig Zeit zur Verfügung steht. An Fest- und Feiertagen oder am Wochenende möchte sie sich die Arbeit erleichtern, weil vielleicht ein Ausfluß [!] unternommen werden soll.“ (57)
In der Gegenwart freilich muten manche Texte dem Klienten geradezu utopische Verhaltensweisen zu. Für die Montage einer „Halogenfackelslampe“ wird empfohlen: „Bitte keine Erschütterung die Leuchtige Lampe Anzugeben, Sonst wir die Lampe zer-schmettern. Wenn die Glühbirne ein Lampe auf voll ein fur zwei Stunden. Wenn Sie kein lärm hat.“ (41)
Solche Texte kann man als pure Literatur lesen, sie sind offensichtlich an der Kante zwischen Experiment und Fiktion angesiedelt und lassen sich, mit einem Phantomautor unterlegt, in jeder Anthologie für Sprachexperimente unterbringen.
Jürgen Hahn lässt die Texte für sich sprechen, allein die Zusammenstellung der Beispiele ist ein Akt hoher Poesie. Um die Freude am Auspacken auch haptisch in die Glieder fahren zu lassen, hat der Verlag einen wunderbaren Umschlag gestaltet, den man seitenverkehrt wie eine Wundertüte aufmachen kann. Literarisches Auspacken kann wirklich Freude machen!

Jürgen H. Hahn: Auspack und freu! Die witzigsten Gebrauchsanweisungen.
Frankfurt/M: Eichborn 2009. 88 Seiten. EUR 10,50. ISBN 978-3-8218-6048-0
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GEGENWARTSLITERATUR 1751
Zeilen entlang der Zeit
Manchmal wird die Literatur so eigenständig, dass sie nach einer neuen Gattung verlangt. Ilse Kilic und Fritz Widhalm komponieren schon seit Jahren eine realistisch üppige Literatur zusammen und statten sie ständig mit neuen Gattungsbegriffen aus. So bietet etwa der Verwicklungsroman eine feine Möglichkeit, Geschehnisse und Verhältnisse aus der Vergangenheit autobiographisch mit der Gegenwart zu verknüpfen.
Der Verwicklungsroman erstreckt sich als work in progress über mehrere Bände, wenn wieder ein Band fertig wird, wird er publiziert, als Leser kann man an jeder Stelle einsteigen und hat immer den gesamten Ablauf vor Augen. Zu diesem Zweck ist die Handlung in durchnummerierte Erlebnisparagraphen aufgeteilt, im aktuellen Band erstreckt sich das Geschehen von Nummer 355 bis 410.
Eine Besonderheit stellen sicher die Heldinnen und Helden dar. Da tummeln sich einmal Jana und Naz fiktional durch den Text, aber ihnen sind als Spiegelpersonen die Realitätshelden Ilse und Fritz beigesellt. Je nach Dramatik des Geschehens bewältigen Jana und Naz die Situation, bei schweren Ereignissen eilen dann Ilse und Fritz zu Hilfe.
Als Leser ist man dadurch mit beiden Beinen in der Fiktion und kann seine Leselust ausleben, gleichzeitig wird man aber immer wieder von den realen Figuren in die Realität geholt nach dem Motto: Schau dir das in Wirklichkeit an.
Zeilen entlang der Zeit kümmert sich, wie schon der Titel sagt, vor allem um den geordneten Ablauf der Zeit, und damit es ein strukturiertes Vorher und Nachher gibt, sind allerhand Handlungspartikel ausgestreut. So kommt Naz etwa eines Tages am Wiener Westbahnhof an und erklärt die Bahnhofsrestauration zu seinem Lieblingsort, von dem aus sich die diversen Abenteuer anzetteln lassen und worin auch verlässlich alle Abenteuer wieder enden.
Jana hingegen versucht im imaginären Raum der Pädagogik und der Ausbildung zur Lehrerin Fuß zu fassen, biegt aber jeweils bevor ein pädagogisches Unglück geschehen kann in die Realität ab und betrachtet von dort aus den seltsamen Kosmos des Schulwesens.
Zwischendrin ergibt sich jede Menge Musikkultur, die Bands treten in Scheiben gepresst oder als Essay auf und dokumentieren die jeweilige Gegenwartskultur.
Obwohl die Figuren behutsam fiktional angelegt sind, bleiben sie zerbrechlich wie in der Realität. Jana muss sich ständig mit dem Thema Krebs auseinandersetzen und auch der Naz erwischt zwischendurch ein schlechtes Jahr, in dem er von einer Untersuchung zur nächsten muss. In einem Erlebnisparagraphen zählt Naz beispielsweise alle seine Spiegelungen auf, Darm, Blase und was sich alles so spiegeln lässt.
Ilse Kilic und Fritz Widhalm erzählen fröhlich und lüstern vom Abenteuer Leben, dabei sind sie sehr freigiebig und überlassen die schönen Dinge meist den fiktionalen Doubles, während sie die schlimmen Dinge durchaus auf die eigene Erlebniskappe nehmen. Der Verwicklungsroman „Zeilen entlang der Zeit“ erzählt mit satten Zeilen, dass man erzählen kann wie man will, die Zeit pfeift immer durch die Klusen der Ereignisse.

Ilse Kilic / Fritz Widhalm: Zeilen entlang der Zeit. Des Verwicklungsromans sechster Teil.
Wien: edition ch 2009. 102 Seiten. EUR 12,-. ISBN 978-3-901015-42-7.



GEGENWARTSLITERATUR 1741
Sunnyboys
Ein Roman kann an manchen Tagen wie eine Zauberformel wirken. Der mieseste Alltag, die gewöhnlichste Trivialität, die flachsten Gedankengänge – alles kann plötzlich zu einem Abenteuer werden, wenn sich ein Roman dieser Dinge annimmt.
Jan Kossdorff verzaubert mit seinem Roman gewöhnliche Figuren und lässt sie als echte Sunnyboys auftreten. Die Brüder Clemens und Claudio Kommenda sind nicht nur sonnige Typen, sie führen auch das passende Sonnenstudio dazu. Auch die übrigen Figuren sind ausgesprochen normal bis bieder, zumindest auf den ersten Blick. So scheint eine Volksschullehrerin die ideale Partnerin für einen Sunnyboy zu sein, aber gerade das Gewöhnliche artet oft ins Zickige aus.
Der bürgerlich niedergebügelte Schrecken beginnt, als der Ich-Erzähler Clemens nebenberuflich als Detektiv zu arbeiten beginnt. Schon einer der ersten Einsätze öffnet ihm die Augen. Seine Eltern nämlich sind zu Sexabenteuern verabredet und toben sich in entlegenen Villen ordentlich aus.
Auch sein Bruder Claudio ist nicht nur der brave Sonnen-Kooperator, der den Kunden fallweise die Höhensonne justiert, er hat längst ein zweites Lokal im Auge und will sich selbständig machen.
Zwischendurch werden die Aufträge immer skurriler, ein Fußball-Fürst geht im Ruhestand seltsamen Geschäften nach und es ist besser, wenn man nicht alles weiß. Und verlässlich kommen beim sporadischen Privatdetektiv die Hormone zum Schuss, so dass sich quasi eine flüchtige Affäre an die andere fügt.
Um dem trivialen Leben immer wieder eines auszuwischen, hält sich der Ich-Erzähler an die sogenannte „Regel“. „Vor einiger Zeit habe ich nämlich bemerkt, dass es mir immer schwerer fällt, für gewisse Dinge Begeisterung aufzubringen und generell meinen Hintern hochzukriegen. Deswegen habe ich eine Regel entwickelt, die der äußeren und inneren Erstarrung vorbeugen soll: Mach jeden Tag etwas, das du noch nie gemacht hast.“ (28)
Nach dieser Regel läuft auch der Roman ab. Ständig ist etwas Neues los, die Dinge geschehen zufällig und zusammenhanglos. Die Erlebnisse werden in einem Warenkorb zusammengetragen, aber es ist keine Kassa in Sicht, damit man sie erwerben könnte. Die Figuren erfüllen ihre Aufgabe, die Gegenwart über die Runden zu bringen, mehr ist von ihnen nicht zu erwarten.
Jan Kossdorffs Roman ist bei genauerer Betrachtung ein perfektes Sittenbild einer urbanen, politisch semi-aufgeklärten Gesellschaft am Ende der sogenannten „Nuller-Jahre“. Der Roman liest sich geschmeidig und rinnt wie ein Sonderangebot die Lesekehle hinunter. Aber gerade das ist die heimtückische Botschaft: Das Leben ist vielleicht nichts anderes als ein rasches Versickern von Erlebnissen in einem diffusen Untergrund. Letztlich sind die Sunnyboys unangreifbare Helden einer Flachbildschirm-Zeit.

Jan Kossdorff: Sunnyboys. Roman
Wien: Milena 2009. 380 Seiten. EUR 18,90. ISBN 978-3-85286-176-0.



GEGENWARTSLITERATUR 1753
Manneswehen
Wenn es möglich ist, mit Hilfe der weiblichen Feuchtgebiete einen kontinentalen Bestseller zu landen, dann müsste das mit entsprechend literarischer Ausgestaltung auch mit den männlichen Geschlechtsteilen möglich sein.
Bruno Preisendörfer setzt seinen Roman „Manneswehen“ mit der Härte des entsprechenden Klischees in die Literaturgeschichte. Sein Held ist Spezialist für sanitäre Anlagen und kennt sich bei Duschköpfen, Abflüssen und Toilettenboards bestens aus. Die Partnerin des Sanitär-Profis ist Gynäkologin, die offen zugibt, sexuell privat mit Hingabe eine Sau zu sein.
Zu Beginn erleben wir den Ich-Erzähler völlig fertig, wie er gerade in einer Spezialkonstruktion sitzt, die es ihm ermöglicht, seine Genitalien zu schonen. Der Held hat sich soeben sterilisieren lassen und wir lernen gleich den Unterschied zwischen Sterilisation und Kastration, wie überhaupt sofort erklärt wird, wie es zur Vasektomie gekommen ist.
Zentrum des Geschehens ist ein mittelgroßes Ärztehaus, in dem alle Spezialisten, welche zwischen Nabel und Kniekehle zuständig sind, ordinieren. Auch Helen, die Partnerin des Helden, ordiniert in diesem Service-Haus für Darm, After und Genitalien. Mit etwas Glück wird sie sogar von einem leicht impotenten Vorgesetzten die Praxis erben.
In vier Kapiteln geht es um alle Möglichkeiten der Verhütung und deren Perfektion, es geht um Samenproben vor und nach der Operation, um Stellungen während der Rekonvaleszenz und um Übungen zur Förderung des männlichen Selbstbewusstseins.
Denn obwohl sich der Ich-Erzähler dem Boxsport hingibt, fühlt er sich zwischendurch elendiglich und verliert jegliche sogenannte männliche Haltung.
Und über allem schwebt das Damoklesschwert der Sexualität, auf Schritt und Tritt und im Schritt und Tritt breitet sie sich ständig aus, taucht im Unterbewusstsein auf oder benimmt sich unkontrollierbar.
In Erinnerung ist dem Helden eine Sex-Performance in einem Theater, wobei die Performance-Künstlerin ein Spektakulum festschraubte und das Publikum auffordert, einmal hemmungslos zu gucken. – Kunst kann also auch ein Leben lang prägen!
„Manneswehen“ sollte man augenzwinkernd lesen, wie ja auch Bruno Preisendörfer seinen Helden augenzwinkernd in die Welt der sexuellen Höhen und Tiefen schickt. Und irgendwo ist dieser leicht jammernde Held nach seiner Sterilisation erst ein richtiger Mann, das ist vielleicht die Überbotschaft dieses durchaus informativen und was Verhütung betrifft aufklärerischen Romans.

Bruno Preisendörfer: Manneswehen. Roman.
Frankfurt/M: Eichborn 2009. 196 Seiten. EUR 17,50. ISBN 978-3-8218-6103-6.



GEGENWARTSLITERATUR 1729
Unterösterreich
Jede Gesellschaft besteht aus Untergesellschaften, die nach eigenen Spielregeln handeln und in sich abgeschottet sind. Man denke nur an die Kaste der Politiker, Adeligen oder Universitätsprofessoren, die vor allem eines im Auge haben: Niemand, der nicht die Initiationsriten dieser Subgesellschaft absolviert hat, darf in diesen kompakten Kleinwelten auftreten.
Auch die sogenannte Unterwelt ist eine kompakte, in sich abgeschlossene Gesellschaft. Den Beruf des Unterweltlers muss man lernen, auch wenn die Prüfungen anders aufgebaut sind als Prüfungen in der allgemeinen Gesellschaft.
Günther Zäuner beschreibt in seinem „Unterösterreich“ einige dieser Strukturen, die sich durch die sogenannte Unterwelt ziehen. Dabei kristallisiert sich so etwas wie eine typisch österreichische Sub-Gesellschaft heraus, die anders organisiert ist als die Unterwelt in Italien, Russland oder China. Der österreichische Schmäh verbunden mit einer nützlichen Lebensintelligenz produziert beim Unterweltler so etwas wie einen eleganten Überlebenskünstler.
„Das österreichische, insbesondere Wiener Rotlichtmilieu ist eine über Jahrzehnte gewachsene, homogene und in sich abgeschottete Gesellschaft, an deren Spitze Profis stehen, die nach eigenen Gesetzen und Kodizes handeln. Ein Außenstehender, der meint, aufs Geratewohl mal ein Bordell unter Missachtung sämtlicher Spielregeln eröffnen zu können, muss unweigerlich Schiffbruch erleiden.“ (19)
Zu Unterösterreich gehört auch die andere Seite, nämlich die Polizei. Diese ist ähnlich organisiert wie die Unterwelt, auch bei ihr gibt es geheimnisvolle Rituale und Spielregeln. Im österreichischen Idealfall ergänzen sich Unterwelt und Polizei, beide Seiten wissen, was sie dem Gegner zumuten können, und das ganze Land fährt letztlich gut mit dieser Methode der gegenseitigen Hochachtung.
Probleme gibt es mit internationalen Banden, mit mafiösen Verteilerkämpfen und jähzornigen Verletzungen des Status quo.
Günther Zäuner erzählt auch die Geschichte des österreichischen Verbrechertums, dabei stellt sich heraus, dass diese Zunft wie andere Berufe im Laufe der Zeit ihr Wissen upgedatet hat und durchaus auf dem Level der Zeit ist.
Einzelne Typen werden biographisch dargestellt wie Künstler oder Politiker, und obwohl vielleicht die öffentliche Sympathie manchmal zurückgenommen ist, so neigt der gestandene Österreicher durchaus dazu, Leistung und Ansehen auch in diesem Milieu zu würdigen.
Das Faszinierende an Günther Zäuners „Unterösterreich“ ist die gleichmäßige Sympathieverteilung zwischen Unterwelt und offizieller Welt. Alles ist relativ, niemand weiß bei seiner Geburt, was er eines Tages werden wird. Daher ist es oft purer Zufall, ob jemand im Untergrund oder bei der Polizei landet. Ein aufregendes, informatives und auch augenzwinkernd ironisches Buch!

Günther Zäuner: Unterösterreich. Alles über Österreichs Unterwelt.
Salzburg: Ecowin Verlag 2009. 236 Seiten. EUR 19,95. ISBN 978-3-902404-70-1.



Wer immer noch nicht genug hat: Auf seiner Website hat Helmut Schönauer noch einige weitere Rezensionen (und natürlich auch andere lesenwerte Texte) gesammelt.

Sprachsalz auch auf Twitter

sprachsalz on twitter

Irgendwas ist ja immer, und so gibt es nun schon seit geraumer Zeit den Trend zum Microblogging, als dessen derzeit populärste Ausprägung wohl Twitter gelten kann. Wie bei so vielem Neuen stellt sich auch bei Twitter die Frage, wozu das eigentlich gut sein soll, worauf begeisterte Twitterati für gewöhnlich antworten, der Sinn von Twitter läge gerade darin, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Wie dem auch sei, eine sehr empfehlenswerte Einführung von @digiom findet sich hier, aber der beste Weg, etwas über Microblogging herauszufinden, ist natürlich immer noch, es selbst zu probieren.

Das tut nun auch Sprachsalz, desssen Twitter-Stream hier gefunden und verfolgt werden kann.

Arne Rautenberg

Die Textkostproben am Sprachsalz-Blog werden heuer eröffnet mit einem Gedicht von Arne Rautenberg

Arne Rautenberg


die klarheit verrückter sprechpuppen

verrückte sprechpuppe die beim anschalten sagt
du musst mich anschalten
und die beim ausschalten sagt
du musst mich anschalten

ich bewundere die falter die nachts
zu hunderten trotz des harten gewitterregens
um die straßenlaterne flattern

verrückte sprechpuppe die beim anschalten sagt
du musst mich ausschalten
und die beim ausschalten sagt
du musst mich ausschalten

ich verachte die falter die nachts
zu hunderten trotz des harten gewitterregens
um die straßenlaterne flattern


Erschienen in: "vermeeren" bei Darling Publications, Köln 2006.

Mehr Texte von Arne Rautenberg auf lyrikline.org oder arnerautenberg.de.

Die AutorInnen 2009

Hier nun die Liste der fixierten AutorInnen für das Sprachsalz-Festival 2009:

Juri Andruchowytsch (Ukraine) „Wer die heutige Ukraine verstehen will, muss ‚Das Geheimnis’ lesen.“ so Die Welt über Andruchowytschs aktuelles Buch, in dem er mit Witz, Ironie, Wut und viel Liebe ost-westlichen Stereotypen auf den Grund geht.

Dominik Bernet (Schweiz) Der Schweizer Autor erzählt in seinem neuen Roman „Der grosse Durst“ die sehr persönliche und berührende Geschichte eines Kindes und seinem etwas anderen Verhältnis zu seinem alkoholkranken Vater.

Alex Capus (Schweiz) Der Schweizer Autor versteht es wie wenige andere, exakte Recherche mit lebendiger Fiktion zu verweben und aus Geschichten Lebensromane zu spannen, wie zuletzt in seinem Portraits-Band „Die Himmelsstürmer“.

Franz Dodel (Schweiz) Franz Dodel veröffentlicht als Work in progress seit 2002 „Nicht bei Trost“, das mittlerweile 12.000 Haikus umfasst und mit „Bildern von großer sinnlicher Genauigkeit“ (NZZ) überzeugt.

Andrea Gerster (Schweiz) Die Figuren in den lakonischen Erzählungen in „Mimosa fliegt“ erleben den Alltag im Kippzustand: eine schöne Sprachsalz-Entdeckung!

Joyce Johnson (USA) Ihr Roman „Come and join the dance“ gilt als erste weibliche „beat novel“, im Moment arbeitet Johnson an einem Buch über Jack Kerouac, ihren früheren Lebensgefährten.

Felicitas Hoppe (Deutschland) Hoppes Charakterzeichnungen sind so „genau wie unberechenbar, so klug und zugleich versponnen“, meinte einmal ein Kritiker, und immer voll unbändig schöner Fantasie.

Jack Hirschman (USA) Als Lyriker inspirierten ihn die Beatpoeten und die Politlyriker Pablo Neruda und Wladimir Majakowski. Sein soziales Engagement machten den New Yorker Hochschulprofessor zur zentralen Figur der Anti-Vietnamkriegsbewegung.

Anna Kim (Österreich) Die gebürtige Südkoreanerin ist mit ihrem Roman „Die gefrorene Zeit“ zu Gast – ein Buch über Schmerz, Trauer und das Verheilen von Wunden in einer bitterkalten Zeit.

Andrej Kurkow (Ukraine) Seit „Picknick auf dem Eis“ gilt er als Meister der bösen Pointe, der immer wieder das höchst Abstruse in der Realität entdeckt.

Katja Lange-Müller (Deutschland) In ihrem letzten Roman „Böse Schafe“ schafft Katja Lange-Müller es auf gewohnt wunderbare Weise, die groteske Seite des Lebens eindrücklich kräftig und rücksichtslos komisch auszuleuchten.

Péter Nádas (Ungarn) Sein letztes Buch „Spurensuche“ zeichnet ein eindrückliches Bild des
traumatischen Stillstands, in dem das östliche Europa nach dem Scheitern der Reformen erstarrt war. Ein Buch, das „zum Mit- und zum Gegendenken auffordert.“ (Die Welt)

Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld (Österreich/Deutschland) Wenn er auftritt, erlebt man seine Literatur, die eigentlich Musik ist, als unvergessliches Bühnenereignis. Gerhard Rühm wird zusammen mit seiner Lebens- und Kunstgefährtin Monika Lichtenfeld auftreten.

Arne Rautenberg (Deutschland) Arne Rautenbergs Lyrik und Prosa sind ebenso leichtfüßig wie ernst und entzücken mitunter nicht nur ein erwachsenes Publikum – wie z.B. die "Kindergedichten für Erwachsene".

Pavel Schmidt (lebt in seinem Auto) Noch ist sein bildnerisches Werk bekannter als sein schriftstellerisches Schaffen, seine Lesungen in Hall, u.a. aus seinem Buch „Sein/Seine“, soll dies ändern.

Helmuth Schönauer (Österreich) Er ist die Tiroler Legende der heimischen "Untergrund-Literatur": Wenn es deftig, schonungslos und nichts für zarte Seelen sein darf, dann braucht es Schönauer.

Lydie Salvayre (Frankreich) Spätestens ihr Roman "Das Gewicht der Erinnerung" machte sie zu den bekanntesten französischen AutorInnen der Gegenwart: in sarkastischem Tonfall schildert Salvayre abgründig perfide und doch zutiefst menschliche Geschichten.

O.P. Zier (Österreich) Der Salzburger Autor ist im besten Sinne des Wortes ein "Volksschriftsteller": scharfzüngig, böse und präzis - und „nah an der österreichischen Wirklichkeit“ (Die Presse).

PATENSCHAFT: Andriy Lyubka (Ukraine) Der junge ukrainische Autor wurde von Juri Andruchowytsch eingeladen. 2004 war Lyubka einer der Studentenführer der Orangen Revolution. Als Lyriker zählt er zu den größten Talenten der Ukraine.
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