Anna Kim

Anna Kim stellt uns eine Leseprobe aus Die gefrorene Zeit, erschienen 2008 beim Literaturverlag Droschl, zur Verfügung.

anna kim, © roland dreger 2008


(aus: Die gefrorene Zeit)

Du hast beschlossen zu berichten, doch manchmal zittern die Hände, ein Zwillingszittern, wie das der Worte, ein Nachbeben im Hals; starrst auf die Tür, als wäre sie ein Fenster und in ihr unvergessliche Landschaft, dann ein Erwachen, du kramst in der Hose und legst den Reisepass deiner Frau, ein schmales Fotoalbum sowie die Heiratsurkunde auf den Tisch.
Der Ante-Mortem-Fragebogen: Zweiundzwanzig Kapitel, die die Kennzeichen einer vermissten Person, Merkmale, die jene zu Lebzeiten, ante mortem, besaß, festhalten mit dem Ziel, durch Analyse und Vergleich mit Gebeinen, Knochenstücken, Daten post mortem, fündig zu werden. Der Fund ist nicht die Person, sondern ihr Rest. Das Innerste, wenn man so möchte, andererseits das Äußerste, im Sinne von Letzte, Allerletzte, und doch sprechen sie von Identität, die Vermissenden und Suchenden, meinen vollkommene Übereinstimmung mit, zugleich innere Einheit der Person, die Ebenen vermischen sich, scheinen untrennbar: Es lässt sich nicht vermeiden, die Leiche wird zum Individuum. Wie lange kann sich dieser Gedanke halten, doch nur solange das menschliche Fragment nicht gesehen wurde, solange das Totsein eine Abstraktion,
eine Idee bleiben darf.
Dem Toten ist es gleich, ob seine Identität gefunden wird oder nicht, für ihn spielt es keine Rolle mehr, ob er eine besitzt oder ob sie während der letzten Jahre verloren ging; sie existiert aus seiner Warte nur für die anderen, nicht für ihn selbst. Wird sie schließlich gefunden, ist sie körperlich und zufällig; zufällig, da es nie wirklich um sie, sondern lediglich um die Zuordnung ging.

Identität laut Fragebogen ist klar bemessen, sie setzt sich zusammen aus Geschlecht, Alter, Krankheit, Kleidung, Augenzeugenberichten und Zufallsbegegnungen. Im Sprechen unternehmen wir den Versuch, die verschwundene Person einzukreisen, festzuhalten, festzulegen. Vielleicht ist es ja wahr: Die Einzigartigkeit eines Menschen, seine Identität?, ist tatsächlich unsterblich, sie kann noch lange nach seinem Tod gefunden werden; jeder Satz ist eine Handlung, jedes Wort wird verwendet: Identität sprechend zu stiften, Identität zuzusprechen, nagt an der Substanz, da anstelle eines Menschen gesprochen wird, das Stapfen in unbekannten Fußspuren immer Nummern zu groß; die Fremdperspektive entfremdet zusätzlich –
und ein besonderes Kennzeichen stiehlt allen anderen die Schau: das Verschwundensein mutiert zum Muttermal auf der Stirn, zur Narbe an der Wange; zur Vorliebe fürs Schwimmen im Regen, Schlendern auf Straßen nach Mitternacht.
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weblog zu den 9. internationalen literaturtagen sprachsalz 9.–11. september 2011, hall in tirol

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