Monnerat #1

Gewissermaßen als Teaser für das Festival werden hier am Sprachsalzblog bisher unveröffentlichte Texte der vorlesenden AutorInnen gepostet werden, den Anfang macht Roger Monnerat:

Betrachtung

Als Landschaft wär’ sie beinah’ ein wenig ertrunken;
wenn es Äcker gäbe, stünde Wasser in den Furchen,
und an manchen Stellen wäre die Erde über die
Strasse gespült worden.

Der Ausgangspunkt der Betrachtung läge auf einer Kuppe,
und von unten herauf würde der Schein der
Autolichter durch den Nebel fingern, wie nicht ganz
zutreffend gesagt wird. Der Schein der Autolichter hat
eher etwas Geometrisches: Er entwickelt sich tangential
der Strasse entlang.

Der Nebel wird in dieser Betrachtung als am Boden
haftend gedacht, sich hinter einigen Büschen
versteckend, vor allem aber ganz zugehörig der
Baumgruppe rechts oben im Bild.

Es darf ruhig leicht nieseln und eine Stelle am Himmel
geben, an der ein wenig Licht und Wärme
durchschimmern.

Es gibt Frauen hier und Männer und Feuer. Alles ist
über die Erde hin verstreut: Dächer, Fischweiher,
Bäume und Weideland.

Nirgends hat es Zäune, selten stört die Unkeuschheit.
Alle sind sich einig, dass wer am Feuer sitzt, die
Wärme zuerst an den Augenbrauen spürt. Die Sonne
hingegen wärmt an erster Stelle die Schultern und ist
dem Menschen oft ein Freund.

In dieser ländlichen Betrachtung gäbe es das Amt der
Verwahrloser, das jeweils drei Leute während drei
Monaten ausüben, indem sie da und dort Pfosten in
die Erde rammen, an die sie Gummitiere nageln;
beliebt sind auch kurze Stücke Stacheldraht mit
bunten Bändern daran, gelbe Schaumstoffwürste und
Kiesgruben voller Eisenbahnwaggons.

Es ist in dieser Betrachtung üblich, spazieren zu
gehen, so dass es viele Wege gibt, auf die sich die
Leute geeinigt haben. Natürlich gibt es am einen Ende
der Betrachtung den Weggehweg und am anderen
den Zurückkommweg. Die Schuhmacher fertigen
Umhängebeutel an für ein paar Handvoll
Mergelsteinkiesel, die von den Leuten beim Gehen
auf den Wegen ausgestreut werden.

Immer wieder werden in dieser Betrachtung Ansichten
verlost. Regelmäßig stellt sich die Bevölkerung
danach auf einer großen Wiese auf, alle im Abstand
von hundert Schritten voneinander entfernt, und rufen
einander die gewonnenen Ansichten zu. Die eigene Meinung
behalten die Leute solange für sich, bis die Einkäufer
vorbeikommen und dafür gutes Bargeld auf
den Tisch legen.

In dieser Betrachtung gilt, wer mehr als einen Meter
siebzig misst, als höheres Wesen und muss einmal im
Monat den ganzen Tag auf allen vieren gehen und die
Nacht stehend verbringen. Die Schuhmacher fertigen
Knieschoner und Handschuhe für die höheren Wesen
an, die Seiler stellen dicke Taue für die Nacht her. Die
höheren Wesen legen die Arme über die zwischen
zwei Bäume in Achselhöhe gespannten Taue und
schlafen so im Freien.

In dieser Betrachtung wird gar nicht diskutiert. Alle
wissen, dass der wahre Reichtum einzig in den
Menschen steckt, die sich ausbeuten lassen. Den
anderen sind Futterdosen und Lokale mit
Ausscheidungskabinen zuzuweisen.

Fast alle Leute, die in dieser Betrachtung vorkommen,
haben sich selbst hierher verbannt. Sie erholen sich in
der nebligen, nieselnassen und im Gegenteil
sonnenfrohen Ländlichkeit, um in der Stadt groß
herauszukommen. Kaum dort, singen sie und werfen
Kulturgüter auf den Markt. Später suchen die Männer
dunkle Gassen auf, so dass sie
zusammengeschlagen und ausgeraubt werden
können. Was die Frauen während dessen tun, bleibt
ihrer Kenntnis entzogen.

Diese Betrachtung sieht dem Aufkommen eines
elisabethanischen Kapitalismus aufmerksam zu.

Basel, 3.7.06
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sprachsalz11

weblog zu den 9. internationalen literaturtagen sprachsalz 9.–11. september 2011, hall in tirol

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