archiv 06

Am Anfang war das Sprachsalz. Klar! Das Sprachnachlassmahnmal.

Gestatten, Gestalten!

Alles wirklich wunderbar. Durchs wilde Wald- und Weinviertel.
Aus Ansicht der Dinge.
Zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Ein Opferstock aus seinem Leben berichtet.
Ein Weihwasserbecken zum Überlaufen gebracht mit seinen Tränen.
Verallgemeinerungen des Sinnlichen.
Zusammengestopfte Lebkuchenherzen.

Inmitten von Leben und Lieben: das Loben.
Fingerzeige von Merkenbrechts bis Reinsbach?
Über den Adeloidsteig gebeugt.

Zwinzener Zwutschkerln zwinkern Zwettlern zwischen Zwiefel, Zweifel, Zwingendem...

Eine gewisse Nähe zum Objekt der Begierde wird ausgedrückt durch das besitzergreifende Dein – Mein – Sein, dem sich nur die Allerwenigsten auf Dauer entziehen können.

Geschlafen, erschwommen, zu den Wörtern getaucht, diese mit dem Leben getauscht.

Lederadur lockert lässig Lassos, Leinwände, Landebahnen...

Sein Unwesen auf mehreren Anwesen trieb er, der Treiber.

Sturm um Turm, murrst du zum Schluß.

Unser Motto: Eine Motte ist noch nicht des Sommers Ende, spuck in die Hände und kletter hoch die Wände. Es steht sich dafür.

Auf die W-W-W-Achse alles hieven, bringen, schieben: Wie Wien – Wiesbaden – Waldviertel – Weinviertel – wi wi wi wa we...
Gemeinsames, Trennendes
Der Augenblick, der stehen bleibt. Thema Zeit. Hinzu: Langsamkeit, Zeitraffer etc.

Acht mal acht – Seitenumfang 64.
8 x 8 felder – schach matt.
Abfall, andrang, qual.
Nach: am anfang war das all...

Ahja – abraham a santa clara, max nagl, ramm, jandl, schmatz. Adam mag da Magda, Ada, Sarah, Wanda.

Beichte
Ich bete
Echt bei
Ich. Beet
Beteich

Ein arm in der steiermark, ein zweiter in liechtenstein.
Worauf es ankommt, vibriert im zugemachten.
Ein lungenstrudel hält, was er verspricht. Es zuckt.

Das höchste lob in dieser stadt „es war gar nicht einmal so schlecht“ geerntet. Was willst du mehr?
Aus dem freizeitangebot die lieblingssportart „wettkampfgähnen“ gewählt, besticht das blau des himmels viel zu früh zum morgendlichen geknatter, lärm allerorts. Gas geben, quietschen, sich durchs zeugs quetschen, durchkommen.
Noch ist der tag nicht wirklich erwacht, oder besser gesagt, du bist nicht soweit, die nacht hat dich.
Wie gelähmt gnotzt du am tisch, besiehst dir umliegendes, begreifst in zeitlupe die welt, dein weltchen. Mit einem quäntchen ironie gehe alles einher und besser, meinst du. Da streckst du dich aus, öffnest die augen ein wenig zu fenstern zum ganzen, gähnst, was will die welt von dir? Will sie mehr als du ihr geben kannst? Langweilt dich nicht alles sehr? Geborgenheit? Im dämmerzustand anfang, da, wo mensch schon bald in sich versinkt. Wieder zurückkehrt.

Irgendwie schon sehr,
um nicht zu sagen
durchaus. Doch
einigermaßen. Ja

so in der schwebe
der schwabe
so im lot der kot
die goldene mitte
die gondel der schnitte
an der kante die tante

schmecks
selbst beste see bellt,
bese betet tees

lockencobra, plastisch unvollkommen
musi auf waldhorn feist
denn hier schubbst kirche gegen wyoming

die nie erzählt werden,
von denen hört man auch nichts.
Schon wieder etwas.

Als ich noch lebte, kaufte ich kunst.
Das ist ein satz.

Ein katatoniker soll leutselig sein,
im internet zu hause
und vieles mehr.
Wie stellen sie sich das bloß vor?
Gutnacht mail, ofen aus.

Doux glissements d'après-midi

L'eau est verte comme un appel
et comme lui vite elle fuit.

Mais pas tout à fait. Semble-t-il.
Le temps marque un arrêt.

Derrière la pierre
en plein soleil
dessus l'abîme

on perçoit de perplexes murmures sur mon être

[Raymond Prunier auf einen Gedichtentwurf.]

Nachrichten von Nachbarn

alles auf der überholspur.

Von Kathrin Röggla
sind wir ja alle global geworden,
nachbarn auf beiden seiten quasi, das globale dorf hat zugeschlagen und uns voll erwischt, jetzt läuft alles zur wirklichkeit über, die so aussieht, als kennte sie einen beim namen, als wäre jede durchwahl bekannt. so sind wir durch und durch verkapselt in unsere nächste nähe, wir geben uns permanent die hand, da ist niemand mehr gegen den strich gebürstet, niemand mehr ausserhalb - jetzt kommt alles im weltraumformat.
doch aufgrund der nächstennähe sind wir wie angehupt, wie schreckgespenster steht ein jeder vor dem spiegel und fragt sich: bin ich auch wirklich bereit, bin ich auch wirklich griffbereit für diese gesellschaft, fragen sie, dabei liegt die antwort klar auf der hand: da fehlt es noch weit.
nachbarschaft ausbauen heisst deswegen die bewegung, die durch den kontinent geht, und nachbarschaft ausbauen heisst auch mein auftrag, doch wo anfangen, habe ich mich gefragt, mitbürger heissen ja jetzt alle und mitmischer, nischenhusten hat jetzt keiner mehr, sondern alles ist ganz auf zentralheizung.
ja, die bilateralen beziehungen tauchen auf, an allen ecken und enden entstehen sie, dabei ist die nachbarschaft zu frauen noch nicht erwiesen, nur die zu kindern stimmt total, wenn sie auch extreme menschen sind, wenn sie auch nicht aufhören können und immer weitergehen, so haben sie doch mit uns einiges zu tun. wir sind uns begegnet quasi, wir halten uns so am laufenden über dies und das, wir halten dicht auf beiden seiten, doch seit einiger zeit hat sich das abgebaut, seit einiger zeit sind sie so ziemlich verschwunden, ja - sie sind schnurstracks auf einen anderen planeten ausgewandert, so innerlich. rückbinden, haben sie mir gesagt, wahrnehmen und ausbauen die generationsmässige nachbarschaft, denn sonst stehen wir eines tages ganz ohne sie da.
da heisst es immer, aus dem strassenbild sind sie nicht wegzudenken, es heisst, überall lauern sie, sie sind allerorts zu haben, durchtrieben und immer vorhanden, dabei wissen sie den moment für sich zu nutzen: «entkommen» steht ihnen dann auf der stirn geschrieben. «so wird nie was aus dir werden.» ist schnell zu ihnen gesagt, doch kaum angesprochen, sind sie schon wieder weg. im grunde ist man ja froh, sie loszusein. «die führen sich auf wie die letzten!» meinen die einen, die andern halten sie praktisch für tiere, «die sprechen ja nicht einmal unsere sprache». tatsächlich hat es nicht nur den anschein, sie haben wirklich ihren eigenen slang, dem zu folgen aussenstehenden unmöglich ist - weiss der geier, woher erworben, wie entstanden, letztendlich ist ja nicht einmal sicherzustellen, woher sie selbst kommen. natürlich heisst es, aus den unterschiedlichsten familien, aber damit ist uns kein bisschen geholfen, auch die zuordnung zu einer klasse oder berufsgruppe stellte sich als unzureichender versuch heraus, ihre soziale lage zu bestimmen, nein, da muss man schon ganz anders rangehen.
ausserdem gibt es ja keine klassen mehr, es gibt nur noch konsumgruppen, deren teilnehmern man unterstellt, permanent ihre geschmacksrichtung zu verfehlen. das ist noch einmal gut gegangen, haarscharf! atmet man auf, während die verkäuferinnen sich schon zunicken: falsche auswahl, «schon wieder einer, der danebenlag». nur die kinder nehmen anscheinend stets das richtige mit: weil eben unter ihnen noch wahre statussymbole kursieren, sie haben noch ein verhältnis zu den dingen, während bei uns alles danebengeht. aber das mag daran liegen, dass sich ein grossteil der menschen hier nichts mehr leisten kann, auf dauer hat hier eben niemand geld. deshalb dachten zunächst viele, sie könnten uns retten, wenn sie nur eine kaufkraft entwickeln würden, eine ordentliche kaufkraft und schubkraft, da wäre schon viel getan für unsere wirtschaft, die würden sie ordentlich ankurbeln, aber sie klauen nur, sie kaufen nicht, sie stehlen, ja und wie.
eine gruppe soll ich besonders im auge behalten, das sind die, die am platz des westfälischen friedens mit ihren skateboards glauben, die welt hinter sich lassen zu können, und dabei den platz verbringen, hat man mir erzählt, kaum einer wage ihn noch zu überqueren, die kaufhäuser zu beiden seiten hätten schon ihr sicherheitspersonal verstärkt, und doch schafften sie es immer wieder: kleidungsstücke, spielzeug, essen, ja selbst vor parfümeriewaren schreckten sie nicht zurück. das heisst, man muss davon ausgehen, dass sie es an hehler weiterverhökern.
bin ich also zu dem beobachterposten am platz, da gibt es so eine bank, auf die setze ich mich und gebe vor, mich auszuruhen, doch wie man sich denken kann, wartet ein ganz schöner haufen arbeit auf mich. ich weiss, die meisten in diesem viertel halten dies für selbstverständlich, meinen einsatz für sie, es ist ihnen völlig egal, wieviel zeit und anstrengung ich verwandt habe, um überhaupt hierherzukommen, ich bestehe aus fertigteilen, könnte man fast sagen, hielte man sich an die meinung der leute. ich jedenfalls halte zunächst einmal ausschau nach ihnen, doch wieder nichts zu sehen. sie bleiben wohl in einer art sicherheitsabstand zu mir, so, als ob es hier keinen teppich gäbe, den man langziehen kann, und dann rutschen sie aus, selbst hunderte meter entfernt. in jedem film zeigen sie es her, doch hier hat es noch keiner kapiert. mit der luft ist es dasselbe: sie verbindet uns kostenlos, könnte man sagen, ein leichtes ist es seit jeher gewesen, über sie so was wie kontrolle zu wahren, über sie dinge auszulösen, die jenseits der willentlichen beeinflussung einzelner steht.
doch so was schlägt ja auf einen zurück. jedenfalls steht alles ganz und gar in einem wechselverhältnis, das eine greift ins andere, und das andere ist derweil schon immer einen schritt weiter, kybernetik nennt man das, alleine dieser platz, kein wunder, dass der sicherheitssektor boomt - aber lassen wir das.
zurück zu den kindern. noch immer nichts zu sehen, die stadt ist ja seltsam vierspurig hier, und alles auf der überholspur, das ist der krieg aller gegen alle, lachen die verkäuferinnen und meinen das weihnachtsgeschäft. nulltoleranz, das hat man sich heute schnell auf die fahnen geschrieben, ich aber verstehe langsam keinen spass mehr, denn noch immer ist kein kind zu sehen, nur so angebote an kindern, die nicht recht taugen. denn das hatte ich schnell heraussen: was man heutzutage für ein kind hält, hat meist die besten jahre schon hinter sich.
aber dann beginne ich langsam zu verstehen. man muss sie erst hineintreiben, sie zum gleichaltrigen gespräch locken und dann vollkommen hineinrasseln lassen in ihre jugend - in die zweige getrieben der saft! aber dann abschalten, sie nicht wieder ausbüchsen lassen, auswachsen und aus sich rauskommen, nein, sie müssen drinnenbleiben und auf einem parallelgleis weitersegeln, weitergehen ins unendliche in strikter kindlichkeit.
doch es ist wie immer, kaum hat man einen ansatz zur lösung, kehrt sich alles gegen einen. wie immer wird das eine mit dem andern verwechselt, da heisst es beispielsweise, ich verursache einen haufen arbeit, dabei sind es die kinder, nicht ich, das heisst, sie wollen sich mit mir ihre probleme vom hals schaffen, wo immer man auf grenzen stosse, treffe man auf mich, das sei zu viel. es soll ja niemand zu schaden kommen, aber grosse lust habe man eben nicht mehr auf mich, mehr so ein umgebungsdrücken stelle ich dar, das wird jetzt beseitigt mit grossem hurra.
seltsam, man hält mich nicht für flächendeckend, sie glauben, man kann mich an einer hand abzählen.

Roger Monnerat...

...beschert uns unseren ersten Audiobeitrag:


wie der japanische Roboter Asimo.
der im August 2003
den tschechischen Ministerpräsidenten
aufforderte zu einem Tänzchen


(mail von Roger Monnerat dazu) es klappt tatsächlich. hast du das bild des roboters asimo bekommen? die bewandtnis des geschenks ist, dass die japaner den tschechischen autor karel capek (tschapek) damit ehrten, der als erfinder des begriffs roboter gilt und 1920 ein theaterstück zum thema (rossums universal robots) geschrieben hat. capek hat das wort vom polnischen «arbeiten» abgeleitet.

gruss+dank, roger

( Text zum Song nachzulesen übrigens hier)

Dritte Bamberger Elegie. (Entwurf).

Was ist die Schönheit? Bedroht sie uns nicht, ist sie leer, reine Fläche,
Hat sie Geheimnis indes, erfüllt es lockend nicht sie nur,
Uns erfüllt’s auch und f ü l l t uns, die wir’s so sehnend begehren,
s e h e n d begehren. Nicht ablassen können wir mit den Augen,
fahrn Dir dahin über Ohren und Brüste, im Schoß Dir versenkend
ahnungsvoll witternd die Blicke. Gierig zugleich wie beschwörend,
beten allein Deinen Fuß wir an, jeder einzelnen Zehe
Nagel, den Perllack, der Perlmutter schimmernde Mutter.
Du hebst den Kopf, drehst das Kinn, die Kehle entblößend, lockst Du,
f o r d e r s t das Raubtier in uns, Dich zu reißen – und willst uns verhöhnen,
da wir’s nicht können, sondern versagen. Denn wir wissen,
Du beißt zurück, hast die stärkeren, schärferen Zähne und nutzt sie.
Wirkliche Schönheit kennt nicht Moral und nicht schützende Hemmung:
Wer erreicht mich? ruft sie statt dessen, wer sieht mich und wagt mich?
(Immer noch fährt unsre Zunge feucht Deinen gliedrigen Nacken,
fährt entlang Dir die Sehnen des seitlich gebogenen Halses,
immer noch beißen wir nicht. Ach unsre schändliche Feigheit!
Was für Produkte wir sind! Unzugegeben, die Träume
klebrig zwischen Backe und Backe heimlich verkneifend!
W i e wenig Ich! Dauernd um Zeugen besorgt und um Ansehn!)
Immer noch steht Dein fordernder Blick im Raum, doch erlischt Dir
voll einer Melancholie, die bitter und milde verachtet.
Jede Schönheit ist traurig darum, auch Anahits Schönheit,
deine. Du leckst am Geschmack einer kleinen währenden Blutung,
sichtbar nicht uns, aber schmerzhaft Dir auf der Lippe, Geliebte,
von einem Biß des bleibenden Tiers, das w i r ahnend scheuen.
Das wir zugleich in Deiner Schönheit verehren und brauchen,
ohne ihn, diesen Schmerz, noch selber spüren zu wollen
Deshalb sperrt Unantastbarkeit Dich so ein und quält Dich -
nicht, weil Du leer wärst! Sondern weil Du etwas geschaut hast,
Das Dein Körper b a n n t in seiner perfekten Gestaltung
Und in sich h ä l t: Das wütet in Dir. Du aber lächelst,
arrogant aus Vollendung, so lockend um Wollust wie leidend,
stolz, deine Sehnsucht nicht zu zeigen. Kein Jammer entringt sich,
Zu groß der Anlaß: das Entsetzen, das Du gesehen,
dem Du entsprangst, der Kastration Deiner Väter, Zerstücktes
salziges Bluten in Deinen Müttern, den Meeren.
Davon die schäumenden Wirbel, Chaos und Säfte, zusammen,
strudelndes Aufbegehren, Sturmchemie – so heftig,
Daß Du Dich formen m u ß t e s t. Schönheit ist darum Einspruch.
Weiblich, i m m e r , ist sie darum. Das Ungestalte
trägt sie in sich, innigst unterst, tiefseits der Labien.
Schlage sanft sie, s t r e i c h e sie je zu den Schenkeln und schaue:
Schleimhaut, Organik, rötlich saugend, das Zucken der Sekrete.
Und das All. So geht’s hinein. So heraus geht es immer.
Glas ist nicht fruchtbar. Sondern, durchwegs, der unreine Schlamm ist’s.
Anahit weiß es, trägt es und hält dem uns entgegen.
Das tut die Schönheit: Umhüllend erschafft sie Träume - entfernte,
das ist wahr. Denn nähern wir uns und wolln Dich berühren,
rufst Du abermals: Nimm mich! Nimm mir die Haltung, den Willen!
Rufst nach Beschmutzung, ja! nach Speichel, nach Kraft, nach Schlägen,
Dir die Besinnung abzunehmen, die schwere, formale
Leuchtkraft, das Götzige Dir, endlich. Denn Schönheit ist einsam,
allem andren Vollendeten gleich. Sie braucht nicht ein andres.
Und braucht es d o c h. Darum ist Kampf Dein tiefster Geliebter.
Was Du nicht willst, was Dich verzweifelt, weil Du ankommen möchtest.
Er nur aber zerschlägt, was Dich derart erstarrt hat zu Marmor,
bis Du verlassenes Bild nur noch warst und nichts als Ikone,
innen die wütende ungerichtet tobende Schöpfung,
außen der Leib, der sie ruhend hält, elegant und harmonisch.
Das ist’s, was wir bewundern, weshalb uns Berührung tabu ist.
Deshalb entweihen wir’s nicht, sondern lassen Dich stehen
in Deiner einsamen Blüte, bewundert zwar, doch so bitter.
Wir verschmähen den Austausch mit Dir, um selbst nicht, was Du trägst,
tragen zu müssen. Du sollst es tragen für uns. Versteh uns!
Wir sind zu häßlich, des bleibenden Tieres Chaos zu zähmen.
D i r drum genüg’! rufen wir, genüge doch, Schönheit, dir selber!
Niemanden brauchst Du als Dich! Was wollten wir Dich betrachten,
wär dem nicht so? Du wärest bedingt, wie es wir sind. Und hilflos.
Unbedingt sollst Du sein! (Wie kannst du wagen zu hoffen?
wie es uns zeigen? – Gibt Schönheit sich hin, halten wir uns schadlos:
machen uns lustig, verhöhnen sie, bis sie kleingekriegt jammert.
Bleibst drum besser Madonna.) Wir beten dich an in
Schauspielerinnen, Sängerinnen, je entfernter, je besser.
Die erreichen wir nicht, sie nicht uns, so genügen wir jedem,
Alltag, Moral und Begehren. Eine alte Bewegung ist es,
uns überkommen. Ins Maul des Begehrens steckst du die Kandare.
Ungezähmt ist das bleibende Tier, nur so darf’s uns bleiben:
angeschirrt oder von Deiner Gestalt, Anahit, ganz erblindet.
Nicht springt es los, dich zu jagen, nicht wirft es dich nieder erbarmend,
Nicht zerstückt es dich zwischen den Klauen, stößt zeugend zu nicht,
Nicht zum Teil macht es Dich, das in anderen Stücken sich findet,
sterblich und fruchtbar. Geschunden zwar, doch heimgekommen.
Nein. Er bleibt unerbarmt, fern uns und allem, Dein Schmerz auf der Lippe.

Stehst auf dem Sockel, Saal fünf. Läßt kühlen Blicks Dich betrachten.
Ich rieche Weihrauch, das Licht ist gedimmt. So schauen wir flüsternd.
Argwöhnisch sind die Wächter dem, der nicht betet, wie Küster.

AutorInnen

Und die nun endgültig endgültige AutorInnenliste steht nun auch fest:

David Albahari (Serbien/Kanada): Der in Kanada lebende serbische Autor hat mit „Götz und Meyer“ eines der berührendsten Bücher über den Zweiten Weltkrieg geschrieben.

Hans Astchenwald (Österreich): Der Tiroler Lyriker wird das Festival mit Versen über die Natur und die Menschen darin eröffnen.

Thomas Glavinic (Österreich): Sein „Kameramörder“ war in aller Munde, nun wartet er mit seinem nächsten Buch auf und führt uns raffiniert literarisch an der Nase herum.

Gerhard Jaschke (Österreich): Der Experimentator zwischen Kunst und Literatur wird Wörter zu Anagrammen wirbeln und anderes mehr bei Sprachsalz.

Alban Nikolai Herbst (Deutschland): „Spricht man von ihm, werden die Stimmen raunend oder verschwörend“, stand im Kulturspiegel zu lesen. Bei Sprachsalz wird Alban Nikolai Herbst aus seinen zahlreichen wunderbaren Texten lesen.

Wolfgang Hilbig (Deutschland): Er ist einer jener deutschsprachigen Autoren, dessen Werk man einfach gelesen haben muss. Eine viel zu seltene Gelegenheit, den Autor in Österreich zu erleben.

Sibylle Lewitscharoff (Deutschland): Ein Glücksfall für die deutschsprachige Literatur wie die deutsche Sprache selbst.

Sudabeh Mohafez (Deutschland/Iran): Ihr erster Roman „Gespräch in Meeresnähe“ verwebt kunstvoll die Geschichte von drei Frauen.

Roger Monnerat (Schweiz): Einer der Schweizer Erzähler, bei dem der Beat der siebziger und achtziger Jahre lebendig wird, präsentiert seinen neuen Erzählband bei Sprachsalz.

Kathrin Röggla (Österreich): Wenn diese Autorin Managern und Managerinnen zuhört, entsteht ein dichtes Stück Literatur und ein Bild der Welt von heute, wie es treffender nicht sein könnte.

Oksana Sabuchko (Ukraine), die wichtigste Schriftstellerin der heutigen Ukraine, gibt sich mit ihrem Buch „Feldstudien Über ukrainischen Sex“ die Ehre.

Edward Sanders (USA): Wieder ist eine der Beatlegenden der USA zu Sprachsalz geladen: Sanders bringt seine «Tales of Beatnik Glory» mit.

Martin Stadler (Schweiz): Mit „Hungertuch“ gelang ihm ein ungewöhnlicher, schillernder und faszinierender Roman, der einem nicht mehr loslässt.

Raphael Urweider (Schweiz): Poet, Rapper, Performer, Musiker, Mundartdichter, Übersetzer. Lyrik ist für ihn «tanzende Sprache und gesprochene Musik», sagt der vielseitige Raphael Urweider.

Janine Pommy Vega (USA): eine amerikanische Lyrikerinnen, die Ihre Erfahrungen aus der Beat-und Hippiezeit in Worte umgesetzt hat!

Rainer Weiss (Deutschland): Mehr als 20 Jahre war Rainer Weiss einer der bestimmenden Lektoren im Suhrkamp Verlag, nun hat er gekündigt; kurz davor hat er noch die Briefe Siegfried Unselds ediert, des wohl bekanntesten Deutschen Verlegers der Nachkriegszeit.

Robert Wölfl (Österreich): Die Texte des österreichischen Dramatikers wurden bislang vor allem in Deutschland wahrgenommen und mit Preisen bedacht.

Gerhard Jaschke

Weitere Beiträge für das „Sprachbastelbuch“

Motto:
„Wer einmal mit dem Worte spielte, wird immer wieder mit dem Worte spielen.“ (Kurt Schwitters)

Von der Umschrift des Bestehenden,
der Freude an der Verwandlung.

Ein Buchstabe weg, ein oder zwei hinzu?
Komisch – kosmisch
Dinge – Inge – Ringe – Singe – Klinge – Bringe – Wringe
Saat – Staat
Schaf – schlaf
Traurig – Trauring
Sehen – stehen
Rathaus – Rasthaus
Wort – Ort – Sport

2.
Heiße Würstel
Heiße Xaver
Heiße Yeti
Heiße Zacharias
Heiße Adam
Heiße Bertha
Heiße Cäcilie
Heiße Dora
Heiße Emil
Heiße Fritz
Heiße Gernot
Heiße Herbert
Heiße Ida
Heiße Jeremias
Heiße Karl
Heiße Ludwig
Heiße Meinrad
Heiße Norbert
Heiße Otto
Heiße Peter
Heiße Quälgeist
Heiße Robert
Heiße Susanne
Heiße Theodor
Heiße Ulrich
Heiße Viktor

3.
Siehe „Faltblatt“ – Edition
Monovokalisches vermengt mit Anagrammen u.a. Textverfahren

4.
Am Anfang war das All,
das Sprachnachlassmahnmal

5.
Der Rede Wert – mehr denn je!

6.
Didi sitzt in Ingrids Bild. Ist Didi blind? Sind Didis blind?

7.
Horch, Kosmos, horch!

8.
Uhu ruht zur Kur.

(Wie wäre es mit einem Stück bestehend aus 5 Personen (5 Vokalen)?)

9.
Vokaltausch
A la
Fetter Vater – fitter Vater – Futter Vater – Vetter

10.
ich weitere
du weiterest
er, sie, es weiteret

wir weiteren
ihr weiteret
sie weiteren

11.
Stabreime

Wo wolken wohnen
Welken weinen
Wangen wärmen
Winters wie worte
Wonnen

Wachteln watscheln
Wahn watschen wogend
Wohnwagenwärts

Wind wucht
Wartend willentlich
Wegwerfwand
Wiege wolle

Während werbematerial
Wahnsinnig war

.

z oder es ist vollbracht
zwischen zweigen zwetschken
zwittern zwiebeln zwitschern
zeisig zierlich zart zig zigaretten
zueinander zuder zink zinnoberrot

.

was weiches warmes
wäre wirklich wundervoll.
Wahnsinn, wie wild
Walter wilfried watscht.
Was weiß wiener,
wenn watzlawick wedelt?
Werner weissagt waltraud
Welten wie wirr.

Waren wir
Wie wolkenwickler wahr?
Wind weht.
Wesen welken.
Wetter wirkt.
Wesentliches
Wird wieder werden,
wenn wir wahrhaftig
wissentlich wahnsinn wollen.
Wie wahr!
Wie wunderbar!
Wie wandelbar!

12.
„Drei bis Vier!“
ist fast die beste Antwort
auf die Frage
„Wie geht es Dir?“
Und wie geht es Dir?
Mir? Um vier?
Am Klavier zur Zier? Mit Dir?
Zum Pläsier? Hier als King Lear?

13.
A B C E H L P R S T U

Sprecher, ehret ABC
Spruchbustelbach
Sprechbustelbech

Blech! Sprache? Rache? Arche!
Sache! Schacher! Prahle!
Lust, Luster, Laster. Leset, Leser, Esel!
Seele stahl Hals. Schal lasch. Arsch rasch!
Herr Pele! Her Perle!

14.
megacool
echt geil
Koffer
Krampus
Eisenbahn
Übermorgen!

15.
Schraube locker!
Blauer Schocker?
Schlaue Brocker?

16.
wie aus wien rom und aus rom wieder wien wird

wien
wie
wo
wonn
wom
rom
roh
ron
rien
wien

17.
viel leicht und
wenig schwer

18.
zwölf schöne töne
dösen
bröselnd im föhn
der gekrönten
verwöhnten
sprößlinge,
die öfters
größere wörter
spöttisch aus der börse
höhnisch, hör höfisch,
in mösen
schnöseln
und gröhlen.
Rötliche möwen?

19.
reine weiche zeichen
gleiten heiter, leicht.
Keimfreie schreiben
Weisheiten.
Einheimischer weist
Seinesgleichen ein.
Leise verweigert
Meister reinhard
Einer weiche
Gleitzeit.
Eiei!

20.
träume
illusionen
chaos
konfrontationen
simulation

trivial
insistierend
charismatisch
konfus
sinister

ticks
ticks

P.S.: Von der Umschrift des Bestehenden angeregt zu eigenen Versuchen? Der „Fehler“ diene als „Helfer“. Schreibe Städte, Orte, Länder, Straßen, Plätze, U-Bahnstationen, Denkmäler um.
Mache aus jedem Rathaus ein Arthaus, aus jedem Spital ein Latsip, aus jedem Friedhof ein Hoffdier oder was auch immer. Zerlege Wörter, setze diese neu zusammen, entdecke in jedem Wort ein neues, vielleicht schöneres, besseres, strahlenderes!
Mache aus der Harmonie eine Mohnarie und vieles andere mehr. Entdecke den Zauber jedes Worts, jedes Buchstabens.
Bilde aus drei- oder vierbuchstabigen Wörtern Geschichten, Gedichte. „Von mir aus!“

Gedichte von Janine Pommy Vega

(aus dem Amerikanischen
von Florian Vetsch)


Janine Vega hat die Fähigkeit, die Vorstellungswelt von Kindern
auf den Tod, die Hölle & den Teufel zu lenken. Falls unser Kind in
ihre Klasse kommt, werden wir Anzeige erstatten.

- Auszug aus einem Elternbrief an eine Lokalschule

HEXENKUNST


Wünschte, sie hätten das nie gesagt über
das Lenken der Vorstellungswelt von Kindern,
als ob ich Kanäle in ihre Ohren
bohrte. Wünschte, sie hätten
die Vorstellungskraft nicht
für teuflisch befunden.

Einmal sah ich einen Teufel, er hatte
ein Gesicht verschlossen wie eine Faust, eine
Mauer gegen jede Verständigung.
Die Bodhisattvas lehren: Solange nicht
jeder frei ist, ist keiner wirklich frei.

Leg die Scheite zusammen für das nächste Feuer
und ich werde darum herumtanzen wie die
Hexen in der Walpurgisnacht

Sag Beltana, sag Aks aya trt jya
sag Marienmond oder Buddhas Geburtstag
jeden Namen verkörpere ich im Feuer

Das brüllt
pyramidal auflodert,
und sein Spiegelbild erblick ich in meinem Herzen.

Feuer brennt und brennt nicht.
Wo ist mein Besenstiel?
Vertrau mir.


Bedford Hills Correctional Facility, NY, Februar 1992



VERRÜCKTE HUNDE VON TRIEST


für Andy Clausen


Noch nie befanden wir uns in einem Krieg wie diesem
in all den Jahren nicht
in denen wir auf den Strassen um 3 Uhr in der Früh die Jugendlichen
beobachteten, wie sie Stinkbomben in Abfalleimer schmissen
die letzten Stricherinnen, wie sie heimwärts zogen

Oft kehrten wir nach einer solchen Nacht
in den Cafés von Les Halles ein, wir konnten
die kräftigen Kerle vom Markt
und die schönen Dirnen sehen
wie sie sich eng umschlungen ausruhten
Le Chat Qui Peche, Le Chien Qui Fume
beseelt von Pariser Walzern, seine Hände auf ihrem Arsch
Wir konnten Rohes aus den Kompostcontainern fischen
und den Linseneintopf für morgen aufsetzen

Noch nie standen die Dinge so wie jetzt.
Bullen schwärmen auf dem Dorfplatz gegen Teenager aus
bumsen den Gefälligsten durch und buchten den Rest
in Zellen ein
Die verrückten Hunde von Triest -
wir rechneten damit, dass sie die Toten stürzen
und den morschen Status quo, hier ein Stubs
dort ein Stoss, das verfettete verkalkte System marodieren –
sind verschwunden wie Geschichten

Wir pflegten sie unter Hutkrempen zu erwischen
die ihr Gesicht fast ganz überschatteten
und manchmal verwandelten sich jene Stimmen
eine um die andere
in Wellen
wie Zikaden in den Augustbäumen im Hintergrund
singen und verschwinden, die Worte krochen unter
die Vorhänge der Macht, bewirkten kleine Veränderungen,
setzten die prekäre Balance ausser Kraft und führten zur Entspannung

Jene Rudel streunen jetzt nicht mehr kreuz und quer über die Boulevards
in den alten Städten, kein politischer Klüngel
überwacht die Welt mit
allwissendem
Auge
die poetischen Stimmen Regenbogenkörper
deine Freunde meine Freunde keiner mehr übrig
aber die verrückten Hunde von Triest, wenn wir
die Strassen unsicher machen.


Willow, NY, August 1998




KÜCHENTRAUM


In meinem Zimmer über der Küche
in Barranco kräuselt sich über dem Holzboden
der Schatten von Weihrauch
Ich neige mich über das Königreich
meiner Habseligkeiten, und dies wird
eines Tages verschwinden
wie Rauch, der sich auflöst

Eine Taube landet vor der Tür
und gurrt, kommt herein,
geht hinaus in die Stille
wie ein Leben,
das kurz aufscheint
wie jemand, der in einer Flussmündung
in die See hinaustreibt.


Barranco, Lima, Peru, September 1993



VOGELMUTTER VON CAGLIARI


für Anne Waldman


Urmutter
aufbewahrt in Regalen
aus Cúcurru’e Mari auf Sardinien

eine Reihe kleiner Mütter aus Cúcurru S’árriu
zwischen früher und mittlerer Bronzezeit
Bronzezeit (1600 v. Chr.), nuraghische Kultur

Vogelfrau aus weissem Marmor gemeisselt
mit grossen breiten Schultern
und blindem Schnabel,

Glaubst du, dass wir,
umgeben von Bildern
und Kunstwerken des alten Wissens,
zurückgeworfen werden könnten,
erschüttert, überrascht in unser Urselbst
und sein singendes Herz zurückversetzt?

Unser Einblick in sehnige Kanäle
den Halt unserer Arme und Knie – voller Höhlen
deine dunkle Nacht eine bestirnte
mütterliche Kirche, mit vernestelter Kenntnis
einer körperlichen Welt und ihrer Brut von Eiern
eines schöner als das andere

Könnten wir in jenen Garten zurückkehren
und deine Obsidianhalme erkennen
dein rundes Kammerhaus
deine Hand vor dem
mons veneris
wenn du dich nach rechts drehst?

Könnten wir zustimmen und eintauchen in jenes Königreich
Beschützt, hervorbringend
ohne die Kriege der Teilung?

Könnten wir dich finden, Trösterin,
wenn wir die Arbeit auf uns nähmen,
die keine Trennung duldet?

Könnten wir dich finden,
wie du an der Pforte lächelst
und uns willkommen heisst?


Cagliari, Sardinien, Juli 1999








PATRICK NOLAN


Ich lese deine Kindheitsgedichte
wie du von deinem Stiefvater geprügelt wurdest, getreten
regelmässig missbraucht, er hasste dein helles rotes
Haar, du verbargst es unter einem Hut
er riss dir den Hut vom Kopf und warf ihn aus
dem Wagenfenster hinaus

Ich dachte an die Anwärter auf die Todesstrafe
dass sie alle, von einem Mann oder einer Frau
in ihrer Kindheit missbraucht wurden – die Mörder, Vergewaltiger: 100% -
dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt
dass Grausamkeit eine antrainierte Art zu handeln ist,
keine natürliche

Ich stand beim Wettbewerb für deine Gedichte auf:
glasklare genaue Details
ohne Selbstmitleid, so sehr, dass sie einen Leser
zu Tränen rührten, und du gewannst den dritten Preis.
Ich ging dich besuchen, wie man ein fremdes
Land besucht, in den Sacramento-Fluten

Alle Workshops im Folsom-Gefängnis endeten
mit dem Regen, sie gaben mir einen Raum abseits vom Hof
mit nur zwei Studenten, mit dir und einem anderen
als ob ich dich in der Türkei besuchen käme
wir hatten eine einstündige Privataudienz
dein helles rotes Haar dunkel von den Jahren drinnen

Ein Frosch begann zu quaken neben dem Abfluss in der Ecke
du unterbrachst unser Gespräch, um ihn zu fangen
und trugst ihn hinaus, gabst ihm die Chance
zu überleben. Ich dachte daran, wie das Mitgefühl
in einem beginnt und alle anderen einschliesst,
wie deine Gedichte und du selbst dich verändert hast

Gestern Nacht erfuhr ich von deinem Tod.
Ich kam gerade vom Berg heim
ich betrachtete die kahlen Bäume in der Sonne, sie sagten
du habest gewusst, es würde kommen, Hundertscharen
von Ahornblüten auf dem Waldboden
manche rot, schön auf natürliche Art


Willow, New York, 14. April 2000

Gedichte von Ed Sanders

(aus dem Amerikanischen
von Florian Vetsch)



Die Absetzung von George Bush – eine weltweite Party


Heute haben sie George Bush abgesetzt
und die ganze Welt feierte ab

Blumen sprossen jäh hervor
Posaunen stiegen allein vom Estrich
und dudelten den „Celebration Waltz“

Draussen in den Tierhandlungen von Des Moines tirillierten die Vögel
plötzlich „All You Need Is Love“
und jedes Schosshündchen stimmte einen d-moll-Heuler an!

In Italien sprudelten alle antiken Brunnen wieder
und die Geister der römischen Dichter verfassten Lobgesänge!

Durch den Arc de Triomphe
sangen 400'000 lilientragende Kinder
die zwei Worte der Absetzung
„Égalité ... Liberté“

Es war überall nochmals wie anno 45

In Böhmen produzierten die staatlichen Glasfabriken
eine Million blaue Teller aus Absoluter Freude!
um sie gratis an die Touristen von Prag zu verteilen!

654'000 Stepptänzer wurden in Santiago auf dem
Weg zu Pablo Nerudas Haus gesichtet
während die 1973 gestohlenen Bücher ersetzt wurden

Petrarca und Laura erschienen Hand in Hand
und schauten unter der Seufzerbrücke
dem Rennen der Schnellboote auf dem Arno zu

Den Mauern von Troia
entstieg die Mutter des Patroklos
mit einem Korb voller Granatäpfel
um die Seelenwunden von Bushs ungezählten Morden zu heilen

Auf Leukadiens Klippen
sang die alte Sappho
„Die Freiheit zu leben, wie wir es lieben, wird kommen
jetzt, wo er weg ist“

Die Stimme von Thomas Jefferson
donnerte über Virginia und forderte
von den Banken, allen Bürgern die Schulden zu erlassen

Anita Ekberg plantschte nackt und allein im Trevi-Brunnen
so begeistert war sie über die schwedischen Gardinen für George
und Catull schrieb drei Gedichte über dieses Wunder

500'000 Menschen, beinamputiert durch US-amerikanische und
chinesische Landminen
stampften mit ihren Krücken den Rhythmus von
Stevie Wonders „Superstition“, das aus gigantischen Helikoptern dröhnte
um Millionen nicht gezündeter Landminen
aus den blutigen Feldern
in die UN-Container zu befördern

Paul Bowles schickte eine Wasserpfeife aus Tanger
an Corso, Ginsberg und Orlovsky
ins Zimmer 27 des Beat Hotels an der rue Git le Coeur
zur Feier der guten Nachricht

Cassandra steht an der Pennsylvania Avenue
und weint, diesmal vor Überraschung
weil die Welt zu guter Letzt ihren Worten folgt:
„Lebwohl, George, dein Haus fiel ein, ohne auch nur
ein Aschenhäufchen zu hinterlassen!“

Macht Party! Sagt Party!
Tanzt den lieben langen Tag!


Ed Sanders



Lied für Allen Ginsberg



Er war einer meiner Helden
Allen Allen Allen ist gefallen
Dort, wo der Fluss der Freiheit fliesst
und die Friedensblume spriesst

Welch riesiges gigantisches Gehirn!
Hunderte von Blake-Versen abgespeichert
10'000 Vokale von Yeats
ein Catull oder zwei, 50 Seiten Whitman
Milton’s „Lycidas“, Proben von
sapphischen Strophen, lange Erinnerungen
aus der Jugend & der Familie, Gigabytes
von Unendlichkeitsbytes nackter Tatsachen
über die brennenden Felder der Erde

Ach Allen
Dein Raketengeist
explodiert
dort oben m/ Sappho & Keats
in einem weiten, wilden Strahlenkranz
über unsrem kleinen Teil der Milchstrasse

Er war einer meiner Helden
Allen Allen Allen ist gefallen
Dort, wo der Fluss der Freiheit fliesst
und die Friedensblume spriesst

Nun, während ich hier bin
mach ich meine Arbeit - -
und die wäre?
Die Qual des Lebens lindern.
Der Rest ist trunkene
Pantomime
(aus „Memory Gardens“ 22.-29. Oktober 1969)

Er war einer meiner Helden
Allen Allen Allen ist gefallen
Dort, wo der Fluss der Freiheit fliesst
und die Friedensblume spriesst

Keine Zeit für Wiederholungen
Keine Zeit die Post zu lesen
Keine Zeit zum Kometen aufzuschauen
Keine Zeit für ein Treffen
Keine Zeit für sagenhafte Bilder
Keine Zeit nachzudenken
Keine Zeit Ägyptisch zu studieren
Keine Zeit sich Berg anzuhören
Keine Zeit beim Steinhändler vorbeizuschauen
Keine Zeit diesen Augenblick noch einmal zu erleben
Keine Zeit sich eine Kosmologie zurechtzulegen
Keine Zeit sich ein neues Ruder zu kaufen
Keine Zeit Glyphen zu entziffern
Keine Zeit die Papiere zu sichten
Keine Zeit die Mondphasen zu berechnen
Keine Zeit Pfeffer anzupflanzen
Keine Zeit für den Frieden zu streiten
Keine Zeit die Angst zu demontieren
Keine Zeit die Visionen auszukosten
Keine Zeit keine Zeit keine Zeit keine Zeit

Er war einer meiner Helden
Allen Allen Allen ist gefallen
Dort, wo der Fluss der Freiheit fliesst
und die Friedensblume spriesst


Woodstock – Venedig – Florenz – Rom, 1997-1998




Hymne auf den Nicht-intendierten Klecks


Ich will zurück zu den goldenen Tagen
der Klecks Klecks Klecks Kleckserei
Klecks Klecks Klecks Kleckserei

Ein Buch lesen Eine Schallplatte hören
Gleichzeitig ein Bild malen
Klecks Klecks Klecks
Klecks Klecks Klecks

Nicht-intendierte
Nicht-programmierte
Nicht-organisierte
Kleckserei
Klecks Klecks Kleckserei

Ich will zurück zu jenen Tagen
Und nochmals den Purpurdunst wagen
Auf’m Kopf einer Haarnadel tanzen
Und mir quicklebendig eins schranzen
Klecks Klecks Klecks
Klecks Klecks Klecks

Bring mich zurück zu jenen goldenen Tagen
der Klecks Klecks Klecks Kleckserei
Klecks Klecks Klecks Kleckserei

Vom Hippiezelt aus aufs Flüsschen stieren
und 25 Wochen Arbeitszeit verlieren
Klecks Klecks Klecks
Klecks Klecks Klecks

Nicht-intendierte
Nicht-programmierte
Nicht-organisierte
Kleckserei!
Klecks Klecks Klecks
Vorbei Vorbei Vorbei
Klecks Klecks Klecks



Lied für Miriam


Sie trug
ihr weites
Pfirsichkleid

um Mitternacht
unter dem fast vollen Mond

sie forderte mich auf
barfuss auf der Wiese
Walzer zu tanzen

& die Polka zu drehen
dann die Hände zu ergreifen
& zu kreisen
bis die Sommersterne
Streifen wurden

Ich verdanke ihr vieles
darunter
eine erfrischende Lektion
über die Kraft des

homo ludens









Die Frage des Ruhms

Einleitung: Der grosse Barde Goethe war 75, als er einem Freund schrieb, er habe nie auch nur einen einzigen Monat lang Ruhe empfunden.


Johann Wolfgang von Goethe
sagte, er habe niemals Ruhe empfunden
Nun, was braucht es, um einen Dichter glücklich zu machen?
Ist ihm je etwas genug?
Es ist die Frage des Ruhms
Die Frage des Ruhms

Anderthalb Stunden
gibst du deine eleganten
Verse von dir
im randvollen Fussballstadion
von Santiago

Deine Gedichte
werden auf lenkbare
Luftschiffe
projiziert

Satelliten übertragen dich
in 300 andere Stadien
auf der ganzen Welt
und alle sind sie bis zum Bersten voll

– es ist die Frage des Ruhms –

Schliesslich endigst du
Und 30'000'000 Leute springen auf
schreien & stampfen

Stundenlang klatschen sie Beifall
bis ihre Hände
bluten

& Blasen
schmerzhaft in ihren Schuhen
platzen

und bald beginnen
sie gegen die Tribüne
zu knallen
wie klatschende Kolosse

Dort liegen sie, krümmen sich heiser
noch immer mit blutigem Schaum
an den zerschundenen
Handrücken

die Augen glasig
wie 30'000'000 Waschbären
im plötzlichen Blitzlicht

Das passiert jeden Sonntagnachmittag
und es ist immer noch nicht genug

Ein Ton.

Von Alban Nikolai Herbst.
Für Michael Rieth.

I
Kaum daß Rainer mein Zimmer verlassen hatte, umfing mich mein vertrauter, melancholischer Dämmer. Der nette Mensch war nicht lange geblieben; offenbar hatte meine Sprachnot ihn zu sehr abgewiesen und wenn nicht geängstigt, so doch wenigstens beunruhigt. Ein paarmal hatte er hilflos versucht, dagegen anzuscherzen. Ich hatte sogar gelacht und war seinen Bemühungen durchaus dankbar gewesen. Doch er hielt sie wie alle nicht durch.
Kaum schloß sich also die Tür, vernahm ich abermals das Geräusch. Man kann nicht sagen, es sei ein Geräusch. Es ist vielmehr ein ganz bestimmter, kaum tremolierender Ton, der resonanzlos im Zimmer steht, eine sehr filigrane Luftsäule, deren Standort sich nicht genau bestimmen läßt, die gleichwohl abgeschlossen, geradezu körperlich wirkt. Man hat den Eindruck, sie wie einen Stab umfassen zu können, aber ständig, probiere ich das, greife ich ins Leere dabei. Nur ich allein höre den Ton. Ich weiß nicht, wann ich ihn zum ersten Mal wahrnahm. Vor Tagen glaubte ich, mich erinnern zu können, es sei während des Konzerts vor zwei Wochen gewesen. Da habe er sich gleichsam durch das Violinkonzert nach außen gestülpt, als wäre eine Tonsequenz nicht etwa verhallt, sondern stehengeblieben im Raum, sei stetig prägnanter gewesen, hätte schließlich alles übrige fürchterlich überdeckt und sich ganz so erhalten, wie ein plötzliches Schellen, das einen erschreckt, im Gehirn nachhallt oder der Lichtfleck auf dem Auge bleibt, hat man ungeschützt in die Sonne geschaut. Es spricht aber dagegen, daß während der Konzertes Menschen um mich saßen; und, wie gesagt, ich höre den Ton, wenigstens seitdem und bisher, nurmehr allein. In Gesellschaft verflüchtigt sich das Phänomen, jedenfalls sein körperlicher Aspekt. Insofern genieße ich Besuche. Sie setzen mich instand, die Wahrnehmung zu objektivieren und also als Fremdes, eben als Objekt, zu bedenken, was mir, höre ich es tatsächlich, nicht gelingt. Jedenfalls wird es zunehmend unmöglich. Ich verfalle immer häufiger in mathematische Verspannungen, bin aufgeregt, gereizt, aggressiv. Daß man mich während dieser Zustände separiert, kommt mir entgegen. Ich bin in der Klimax solcher Panik durchaus gefährlich. Unversehens dann - ebenso plötzlich, wie die Tonsäule um mich herumschwingt - bricht sie in sich zusammen. Aber niemals weiß ich, wann das geschah, renne immer noch auf und ab oder schlage vor Gehörschmerz an die Wand, bis ich endlich begreife, es ist wieder vorüber. Jedoch werden die Zeiten immer kürzer, die zwischen solchen Zuständen liegen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich der Ton allmählich materialisiert, daß er durch mich hindurch in die Welt kommt, wobei er mich aufzehrt. Es ist ein Schlupfwespenton. Ich bin seine Nährlösung. Das sehe ich ganz nüchtern. Zudem verhält es sich so, daß seine Frequenz sich der Bestimmung entzieht. Ich kann nicht sagen, ist er hoch oder tief. Manchmal meine ich, es sei das dreigestrichene C, ein andermal scheint er im Baßschlüssel notiert, - wenn ich allerdings genau darauf lausche, verwischt sich jede Differenz. Deshalb halte ich es für plausibel, daß dieser Ton, der sich durch mich gebären läßt, alle anderen Töne in sich schließt. Er ist identische Indifferenz, als hätten sich sämtliche Sinfonien in einem akustischen Schwarzen Loch zusammengeballt und zögen alles noch ungebundene Melos gravitätisch in sich ein. Das ist das besondere: Je plastischer der Ton sich materialisiert, desto tauber werde ich eigentlich, wobei ich die Vermutung nicht abweisen kann, nicht ich ertaubte, sondern die Welt setze sich still, indem ihr der Ton die Laute abzapft.
Das alles ist verwirrend nicht nur für mich, sondern mehr noch für meine Umgebung. Ich kann die Ratlosigkeit meiner Kontaktpersonen verstehen. Um so tiefer schmerzt mich meine zeitweilige Angriffslust. Ich will ja niemandem wehtun, aber wenn diese Säule um mich herumrast, wobei sie von mir ißt, gerate ich instinktiv außer Rand und Band.
Ich meine nun, es sei notwendig, den Zeitpunkt zu bestimmen, an welchem der Ton sich erstmals angekündigt - oder sagen wir: ein Abdruck des Tons in das Häutchen sich geschmiegt hat, das seine Dimension von meiner ursprünglich trennte. Das kann eben nicht während des Konzertes geschehen sein, denn da war der Ton schon völlig ausgebildet, hatte sozusagen längst Zehen, Schenkel und Kopf, auch wenn ihm noch nicht dieselbe Materialität zukam wie mir, sondern er sie sich erst während der letzten zwei Wochen eroberte. Sondern er muß über längere Zeit, wenn auch in anderer Gestalt, in mir gesessen haben und viel früher in mir gezeugt worden sein. Jedermann sollte einleuchten, daß auch ein solcher Ton der Evolution unterworfen ist, das heißt, er muß fötale Zustände kennen und embryonale, um sich schließlich ausstülpen zu können. In diesem Gedankengang scheint mir fraglos der Schlüssel zu seinem Verständnis und also dem Keim wenigstens leidlicher Verteidigung zu liegen. Das wollen indessen meine Besucher nicht verstehen, und ich bin anscheinend nicht der Mann, es ihnen zu erklären. Meist verwirren sich mir, bei aller Schärfe meines deduktiven Vermögens, die Sätze; vielleicht, weil mit Grammatik keiner Akustik beizukommen ist. Immerhin, man fragt nach meiner Kindheit, und zweifellos, im Ansatz deckt sich unser Konzept. Nur daß sie die Stetigkeit aus den Augen verlieren und vor allem den Ton ja nicht hören können, so daß ihre Mutmaßungen stets abstrakt sind und immer abstrakter werden, was sich der Ton zunutze macht; denn was nun an Sinnlichem liegenbleibt, verleibt er sich ein. Sie wissen offenbar nicht, wie gefährdet sie sind, daß er keineswegs mein Phänomen, nicht etwa Symptom ist, sondern Selbstausdruck, also mit einem Wesen - fast möchte ich sagen: einer Seele - ausgefüllt, die gegenständlichen, wenn auch nicht rundweg materiellen Charakters ist. Ich meine das in dem Sinne, daß der Ton als identische Indifferenz zweierlei, vielleicht mehrerlei Seinsschichten angehört, die einander gemeinhin ausschließen, aber durch möglicherweise einen genetischen Unfall in meiner DNS Kontakt bekommen haben. Erschwerend tritt hinzu, daß ich meinen Vater nicht kenne. Da der Ton zweifelsfrei über Intelligenz verfügt - zu planhaft kommt sein Auf- und Wegtauchen daher, als um es "zufällig" nennen zu können -, und weil er an meine Kontaktpersonen glaubt, sie aber nicht an ihn, ist er im strategischen Vorteil und hat den Kampf eigentlich bereits gewonnen. Ich habe das den Leuten immer wieder gesagt, habe sie so heftig gewarnt, bis ich vor Bitterkeit husten mußte. Zwar sind sie auf solche Vorhaltungen ernsthaft und lachen mich nicht etwa aus, aber in Acht nehmen sie sich darum noch lange nicht. Es ist ihnen einfach nicht verständlich zu machen, daß in diesem Fall Schutzkleidung das mindeste Erfordernis darstellt. Ich denke da an Ohrenklappen oder Oropax. Sie hingegen argumentieren, daß wir uns dann ja gar nicht unterhalten könnten. Als käme es darauf noch an! Als wäre ich nicht längst schon nur Futter für ihn... oder für sie. Kann nämlich sein, der Ton hat ein Geschlecht. Besser wäre noch eine Art Raumanzug. Doch eben gerade ohne Sprechgerät; denn wenn dieses akustische Geschöpf es vollbracht hat, meine Physiologie aufzubrechen, dürfte ihm eine elektromagnetische Transformation erst recht kein Problem sein. Darüber, wie gesagt, ist mit meinen Leuten nicht zu sprechen. Ich komme mir vor, als entsaftete man mich. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich auch körperliche Befunde einstellen werden. Einstweilen führt man noch allerlei ergebnislose Versuche mit mir durch, schließt mich an kardiographische, an sonstige Geräte usw. usf., aber eben alles, ich mag es kaum wiederholen, ohne Schutzanzug. Wenn ich dann weine - eben nicht meinet-, sondern ihretwegen in Not -, trösten sie mich, was nett ist, aber niemandem hilft.
Daraus, daß der Ton bislang ein nur meiner Sensibilität registrierbares Phänomen ist, schließe ich, daß er noch an meiner Nabelschnur hängt. Aber eben jederzeit bin ich gewärtig, er könne sich lösen. Seine Entwicklung vollzieht sich in einem rasenden Tempo. Ich habe zweimal versucht, mich zu töten, um ihm die Nahrungszufuhr abwürgen. Wie verzweifelt war ich jedesmal, daß irgendein Dummkopf die Pfleger alarmierte! Wie vergeblich doch sind alle Maßnahmen, die ich ergreife!
Seitdem jedenfalls sitze ich in diesem Zimmer. Das hat mich vorübergehend beruhigen können, ja, ich bin dankbar dafür. Mindert dies nicht die Gefahr, andere könnten sich an mir infizieren? Imgrunde müßte man mich einmauern, wenn man Sterbehilfe schon scheut, resp. entsprechende Verantwortung nicht übernehmen will. Mauern Sie mich ein!, habe ich gebeten, ja gebettelt, - aber jeden Tag wenigstens dreimal kommt irgendwer nach mir schauen, mißt meinen Blutdruck, mißt die Herzfrequenz und stellt anderen banal-medizinischen Unsinn mit mir an. Niemand vertraut meinem Vermögen, den Sachverhalt zu begreifen. Man zwingt mich, Nahrung aufzunehmen, der ich doch den Ton aushungern muß. Wenn ich versuche, ihn zu fassen zu kriegen, wenn ich auf ihn einschlage, fesselt man mich auf ein Bett, so daß er von allen andren unbemerkt und also ohne jeden Einhalt umhertönen kann. Aus dem Augenwinkel habe ich beobachtet, wie er neuerdings versucht, durch den Türspalt zu kriechen. Seit wenigen Stunden ist er nämlich sichtbar geworden. Sichtbar nicht wie Holz, jedenfalls noch nicht, aber wie ein aufgerauhtes Glas, ein bei aller Instabilität der Konturen stabiles, wenigstens distinktes Gebilde, dessen Aggregatzustand weder flüssig, noch fest, noch auch selbst gasartig, sondern etwas Viertes und bis ins Mark fremdartig ist. Zudem habe ich Gründe anzunehmen, daß er mich verspottet, wenn sich ihm denn Empfindungen zusprechen lassen. Mehrmals habe ich jetzt um Hilfe gerufen, aber nicht das kam aus mir heraus, sondern er, immer wieder er. In jedem Notschrei, den ich versuche, manifestiert sich der Ton, und wie Luftsäulen in tiefen Registern schwingt er sich allmählich frei und füllt das Zimmer, bis ich ertrinke.




II
Patient mot. unruhig. Neurocil 3 x tgl. 50 mg. Bei Bedarf Rehypnol zur Nacht. Anamneseerhebung weiterhin nicht möglich. Gewichtsverlust kritisch; künstliche Ernährung (Fresolin).
(28. 7.)

12oo
Bisher kein Raport mögl. Med.änder.: Neurocil 3 x 100 mg. Augen glasig. Hat zu singen angefangen. Nicht Melodie, etwas anderes.

14oo
Pat. fixiert, Fresolin (Tropf). Verliert weiter an Gewicht. Singt immer noch.

22oo
Beruhigt. Leise. Schläft endlich.
(29. 7.)

6oo
Schwester teilt mit, Patient habe seit 3 Uhr gesungen. Flecken unklarer Genese am Hals, in den Weichen.

12oo
apathisch. Flecken vergrößern sich. Am Geschlechtsteil Haut geplatzt. Singt immer noch. Hat etwas Hypnothisches.

20oo
Neuerlicher Anfall; Selbstschädigungstendenzen eskalieren. Die künstliche Ernährung schlägt nicht an. Kaum noch 40 Kilogramm. Sämtliche medizinischen Befunde negativ. Komischer Ton.
(29. 8.)

7oo
Mehrere andere Pat. singen, alle denselben Ton. Zwei Schwestern krankgeschrieben. Eigenartige Stimmung. Der Patient scheint sich körperlich aufzulösen. Die Flecken verbreitern und öffnen sich. An den Wundrändern Gärungsprozesse/Dekubitus. 37 Kilogramm.

mittags
Personal und andere Pat. zeigen motorisch-sensorische Aphasieerscheinungen. Überall dieser Ton. 35 Kilogramm. Seuchenstelle alarmiert.

abends
Alles singt. Vor meinem Schreibtisch steht Irgend etwas. Ich habe den Eindruck es beobachtet mich. Es ist aber nicht, sondern tönt.

nachts: Nicht vom Schreibtisch weggekommen. Seltsam devitalisiert.
(ohne Datum)

Im Behandlungszimmer aufgewacht. Zerschlagen, irgendwie grippal. Ich höre überall den Ton. Habe Dr. Korlt um Konsil gebeten. Er will in zwei Stunden kommen.

12oo Wunderschöner Gesang. Macht die Handflächen rissig. ich habe dergleichen niemals gehört. Undefinierbarer Laut. Der Patient gegen Mittag verstorben. Dr. Korlt hat Quarantäne verhängt.


Die tobende Schwester B. fixiert. Mehrere Pfleger suizidal. Der Ton überall. Völlig unklar, ob ich ihn nur halluziniere. Weiteres akustisches Meßgerät installieren lassen. Kein Ausschlag.


Es ist dunkel. Ich denke ständig an früher. Konzentration schlecht. Wann nur habe ich den Ton zum erstenmal gehört? Schmerzhafte Musik.

Not alarmiert. Versucht. Korlt gekomm (unleserlich). Habe (unleserlich) Apfelsinen meine Mutti Teetasse Scheißfickerei und immerhin (unleserlich) wunderschö Musi ekelhaf
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